Die Wundermacher

I

Die Streitmacht aus Faidefeste durchquerte das Hügelland – eine lange Kolonne aus hundert mit Rüstungen ausgestatteten Rittern, fünfhundert Infanteristen und vielen Wagen. An der Spitze war Lord Faide unterwegs, ein hochgewachsener und nicht mehr ganz junger Mann, hager und katzenartig, mit einem schmalen eingefallenen Gesicht, das auf Magengeschwüre hindeutete. Er saß im traditionellen Wagen der Faides, einem Gefährt, das wie ein Boot geformt war und einen guten halben Meter über dem Moos schwebte, und er trug nicht nur Schwert und Dolch bei sich, sondern auch die Waffen, die ihm seine Ahnen vermacht hatten.

Eine Stunde vor Sonnenuntergang ritten einige Späher zu der Kolonne zurück, und die Rösser mit den gedrungenen Schädeln sprangen wie Hunde dahin. Lord Faide hielt den Wagen an. Hinter ihm blieb sein Gefolge stehen, die einfachen Ritter und Infanteristen, die lederne Kappen trugen. Der Troß, der den Abschluß der Kolonne bildete, verharrte, und knarrend hielten auch die Wagen der Unglücksbringer.

Die Kundschafter näherten sich in einem halsbrecherischen Galopp, und erst im letzten Augenblick zügelten sie ihre Rösser. Lange zottelige Beine streckten sich, und pfotenartige Hufe zerrissen das Moos. Die Späher sprangen zu Boden und eilten sofort auf den ersten Wagen zu. »Der Weg zur Ballantfeste ist blockiert!«

Lord Faide erhob sich aus seinem Sitz und blickte nach Osten über die graugrünen Hügel hinweg. »Wie viele Ritter? Wie viele Soldaten?«

»Keine Ritter, Lord Faide, und auch keine Soldaten. Das Erste Volk hat zwischen dem Nördlichen und Südlichen Dichtwald weitere Bäume wachsen lassen.«

Lord Faide überlegte eine Weile, nahm dann wieder Platz und griff nach dem Kontrollknauf. Der Wagen gab ein dumpfes Schnaufen von sich und setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Die Ritter gaben ihren Pferden die Sporen. Die Infanteristen schlenderten in der für sie typischen halb gebeugten Haltung weiter. Am Ende der Kolonne rumpelte auch der Troß los, ebenso wie die sechs Wagen der Unglücksbringer.

Im Westen ging die große, trübe und in einem matten Rosarot glänzende Sonne unter. Weiter links erstreckte sich der Nördliche Dichtwald, und felsiges Gelände, in dem nur hier und dort das Grün von Moosfladen zu erkennen war, trennte ihn von seiner südlichen Entsprechung. Als die Sonne hinter dem Horizont versank, sah Lord Faide die neue Pflanzung: vage Konturen, die die beiden Waldgebiete miteinander verbanden.

Zum zweitenmal hielt der Lord seinen Wagen an, und diesmal stieg er aus. Er beobachtete die Landschaft, und kurz darauf gab er das Zeichen zum Aufbau des Lagers. Die Wagen wurden so aufgestellt, daß sie einen Kreis bildeten, und anschließend ging man daran, sie zu entladen. Eine Zeitlang überwachte Lord Faide diese Tätigkeiten mit aufmerksamen und kritischen Blicken, und dann drehte er sich um und wanderte durch das grüne und lavendelfarbene Zwielicht. Fünfzehn Meilen weiter im Osten wartete sein jüngster Feind auf ihn: Lord Ballant von Ballantfeste. Voller Zuversicht dachte Lord Faide an die Schlacht, die am nächsten Tag stattfinden sollte. Insgesamt zwölf Feldzüge hatten seine Soldaten zu erfahrenen Veteranen werden lassen, und außerdem waren sie ebenso treu wie zuverlässig. Hein Huss fungierte als Oberster Unglücksbringer für Faidefeste, und drei seiner fähigsten Kollegen standen ihm zur Seite: Isak Comandore, Adam MacAdam und der erstaunliche Enterlin. Hinzu kam noch ihr jeweiliges Gefolge aus Kabbalisten, Thaumaturgen und Novizen – eine bemerkenswerte Truppe. Allerdings gab es auch einige Probleme, die bewältigt werden mußten. Ballantfeste war stark. Lord Ballant würde sicher mit aller Entschlossenheit kämpfen. Anderson Grimes, der Unglücksbringer in seinen Diensten, galt als sehr tüchtig und genoß einen guten Ruf. Außerdem dachte Lord Faide in diesem Zusammenhang auch noch an das Erste Volk und die neue Pflanzung, die die Lücke zwischen dem Nördlichen und Südlichen Dichtwald schloß. Eigentlich war das Erste Volk eher zaghaft und schwächlich und somit bei einem direkten Kampf kein ebenbürtiger Gegner für Menschen. Aber es hütete die Wälder und stellte dort viele Fallen auf. Lord Faide fluchte leise. Wenn sie den Nördlichen oder Südlichen Dichtwald umgingen, so bedeutete das einen Zeitverlust von drei Tagen, und damit wollte er sich nicht abfinden.

Lord Faide kehrte ins Lager zurück. Inzwischen waren Feuer angezündet worden, und in den darüber hängenden Töpfen blubberte es. Im Moos zeigten sich die Schlafmulden, die lange und genau ausgerichtete Reihen bildeten. Das Zelt des Lords hatte man auf einem kleineren Hügel errichtet, neben dem alten Wagen.

Lord Faide schritt durchs Lager und führte eine rasche Inspektion durch. Er sah sich alles genau an, sprach jedoch nicht ein einziges Wort. Die Unglücksbringer lagerten ein wenig abseits der Streitmacht. Die Novizen und einfachen Thaumaturgen bereiteten das Essen vor, während die Unglücksbringer und Kabbalisten in ihren Zelten arbeiteten. Sie schoben Kommoden und Kisten hin und her und rückten alles zurecht, was während der Fahrt in Unordnung geraten war.

Der Lord betrat das Quartier des Obersten Unglücksbringers. Hein Huss war ein Riese von einem Mann –Arme und Beine so dick wie Baumstämme, der Oberkörper so breit wie ein Faß. Sein rötliches Gesicht wirkte ruhig und sanftmütig, und die Augen schimmerten mit der Klarheit von Kristallen. Struppige graue Strähnen bildeten ein dichtes Gespinst auf seinem Schädel, der nicht von einer jener Kappen bedeckt wurde, die Unglücksbringer für gewöhnlich nutzten, um Haarausfall zu verhindern. Hein Huss hielt nichts von solchen Vorsichtsmaßnahmen. Wenn man ihn darauf ansprach, so entblößte er meistens seine weißen Zähne in einem breiten Grinsen und antwortete: »Warum sollte jemand mich behexen, den alten Hein Huss? Ich tue doch niemandem etwas zuleide. Ach, wer mich zu verzaubern versuchte, würde sicher vor Kummer und Scham sterben!«

Als Lord Faide eintrat, hockte Huss gerade vor seiner Kommode. Die Klappen standen weit auf, und deutlich konnte man Hunderte von Puppen erkennen. Jede einzelne von ihnen war mit einer Haarlocke versehen, mit einem Kleidungsfetzen oder dem Schnipsel eines Fingernagels, und jene Dinge hatte der Unglücksbringer mit Hilfe von Fett, Speichel, Exkrementen oder Blut an ihnen festgeklebt. Lord Faide wußte natürlich, daß eine jener Puppen ihn selbst darstellte. Und er zweifelte nicht daran, daß Hein Huss sie ihm sofort aushändigen würde, wenn er ihn dazu aufforderte. Ein Teil des Manas jenes großen Mannes gründete sich auf sein gewaltiges Selbstvertrauen, auf die Mühelosigkeit, mit der er seine Kunst beherrschte. Huss drehte sich zu ihm um und sah die stumme Frage in dem Blick des Lords. »Lord Ballant wußte nichts von der neuen Pflanzung. Anderson Grimes hat ihn gerade davon unterrichtet. Ballant rechnet nun damit, daß Sie aufgehalten werden. Darüber hinaus hat sich Grimes mit Gisbornefeste und dem Wolkenschloß in Verbindung gesetzt. Dreihundert Männer werden noch heute nacht aufbrechen, um zu der Streitmacht von Ballantfeste zu stoßen. Sie dürften in zwei Tagen dort eintreffen. Lord Ballant ist entzückt.«

Lord Faide schritt auf und ab. »Können wir die neue Pflanzung durchqueren?«

Hein Huss brummte und schüttelte den Kopf. »Es gibt viele Zukunftsmöglichkeiten. In einigen Alternativen kommen Sie durch. In anderen nicht. Und ich bin nicht dazu in der Lage, über die Mannigfaltigkeiten der Zukunft zu gebieten.«

Lord Faide hatte längst die Tugend entwickelt, sich nicht mehr über das aufzuregen, was er als verwirrende Pedanterie erachtete. »Das Erste Volk muß entweder sehr dumm oder ausgesprochen kühn sein, um auf diese Weise im Hügelland zu pflanzen. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was es damit bezweckt…«

Hein Huss dachte eine Zeitlang nach, und widerstrebend formulierte er eine Vermutung. »Was ist, wenn es westlich vom Nördlichen Dichtwald bis hin nach Sarrowbusch pflanzt? Und bis zum Alten Wald?«

Lord Faide blieb jäh stehen, kniff die Augen zusammen und nickte langsam. »Dann wäre Faidefeste von Wald umgeben. Wir säßen in der Falle… Werden die Pflanzungen fortgesetzt?«

»Allem Anschein nach.«

»Aber welche Absicht steckt dahinter?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht hofft das Erste Volk, auf diese Weise die Festen isolieren zu können. Oder es ist bestrebt, die Menschen von dieser Welt zu vertreiben. Möglicherweise kommt es ihm einfach nur darauf an, die Wege durch die Wälder zu sichern.«

Lord Faide grübelte. Huss’ letzte Annahme klang eigentlich recht vernünftig. Während des ersten Jahrhunderts der Besiedelung durch Menschen hatten sportliche junge Männer mit Keulen und Lanzen Jagd auf das Erste Volk gemacht und es schließlich aus seiner angestammten Hügelheimat in die Wälder verdrängt. »Offenbar ist es weitaus schlauer, als wir bisher vermuteten. Adam MacAdam glaubt, es könne nicht denken, aber offenbar irrt er sich.«

Hein Huss zuckte mit den breiten Schultern. »Adam MacAdam setzt Denken mit den bei uns Menschen gebräuchlichen zerebralen Prozessen gleich. Er konnte keinen telepathischen Kontakt mit dem Ersten Volk herbeiführen, und deshalb ist er sicher, daß es nicht ›denkt‹. Ich habe es jedoch beim Waldmarkt beobachtet, und mir scheint, es feilscht auf recht intelligente Art und Weise.« Er hob den Kopf und schien zu lauschen, und unmittelbar darauf griff er in die Kommode und zog behutsam die kleine Schlinge zusammen, die eine der Puppen am Hals trug. Außerhalb des Zeltes keuchte jemand und schnappte nach Luft. Huss lächelte und lockerte die Schlinge wieder. »Das ist der Novize Isak Comandores. Er hofft, eines Tages eine Hein Huss-Puppe anfertigen zu können. Eins muß ich ihm zugestehen: Er geht mit ziemlicher Verbissenheit vor – wann immer es ihm möglich ist, berührt er die Spuren, die ich im Moos zurücklasse.«

Lord Faide trat an die Zugangsplane heran. »Wir brechen früh auf. Seien Sie bereit – vielleicht brauche ich Ihre Hilfe.« Und damit verließ der Lord das Zelt.

Hein Huss fuhr damit fort, das Innere der Kommode zu ordnen. Nach einer Weile spürte er, daß sich ihm sein Rivale näherte, Unglücksbringer Isak Comandore, der ganz verrückt nach dem höheren Posten seines Konkurrenten war. Huss schloß den Schrank und stand auf. Kurz darauf kam Comandore ins Zelt – ein ebenfalls recht großer, aber spindeldürrer und buckliger Mann. Dichte und rotbraune Locken bedeckten den keilförmigen Kopf. Und unter den roten Brauen blitzten kastanienfarbene Augen. »Ich biete Ihnen alle meine Rechte auf Keyril an, und ich übergebe Ihnen auch die Masken, den Kopfschmuck und die Amulette. Von allen jemals beschworenen Dämonen genießt er den weitaus besten Ruf. Die Formulierung des Namens genügt bereits zur Hälfte, um ihn zu einem Diener zu machen. Keyril wäre in jedem Fall ein kostbarer Besitz. Das ist mein letztes Wort.«

Aber Huss schüttelte den Kopf. Comandore wünschte sich ein vollständiges Simulacrum von Tharon Faide, dem ältesten Sohn des Lords. Er wollte alles, was dazugehörte: Kleidung, Haar, Haut, Wimpern, Tränen, Ausscheidungsstoffe, Schweiß und Speichel. Es gab nur eine einzige entsprechende Puppe, denn Lord Faide achtete mehr auf seinen Sohn als auf sich selbst. »Ihr Angebot ist sicher nicht schlecht«, sagte Hein Huss, »aber meine Dämonen genügen mir. Gewiß bewirkt der Name Dant ebensolchen Schrecken wie Keyril.«

»Ich füge noch fünf Haare vom Haupte des Unglücksbringers Clarence Sears hinzu. Es sind die letzten, denn inzwischen ist er völlig kahl.«

»Schluß damit. Ich behalte das Simulacrum.«

»Wie Sie meinen«, erwiderte Comandore eingeschnappt. Er blickte kurz nach draußen. »Dieser närrische Novize! Er setzt die Puppe verkehrt herum in Ihre Fußspuren.«

Huss öffnete die Kommode und stieß eine der kleinen Bildnisse darin mit dem Finger an. Außerhalb des Zeltes wurde ein überraschtes Schnaufen laut. Huss grinste. »Er ist jung und ehrgeizig, und vielleicht sogar klug, wer weiß?« Er trat an die Zugangsplane heran und rief nach draußen: »He, Sam Salazar, was tust du da? Komm rein!«

Zwinkernd betrat Novize Sam Salazar das Zelt – ein dicklicher junger Bursche mit einem runden rosigen Gesicht. Ein ziemlich zerzaust wirkendes Gewirr aus strohblondem Haar wuchs ihm auf dem Kopf. In der einen Hand hielt er eine schlichte dickbäuchige Puppe, die offenbar Hein Huss darstellen sollte.

»Du gibst sowohl deinem Meister als auch mir Rätsel auf«, sagte Huss. »Bestimmt steckt Methode hinter deinem komischen Treiben, aber leider bleibt sie uns verborgen. Zum Beispiel hast du das Simulacrum eben verkehrt herum in meine Fußspuren gesetzt. Ich spürte ein kurzes Zerren an den Fersen, und das gab mir die Möglichkeit, dir für deine Unbeholfenheit einen Denkzettel zu verpassen.«

Sam Salazar ließ sich davon nicht erschüttern. »Unglücksbringer Comandore hat uns darauf hingewiesen, daß wir damit rechnen müssen, aufgrund unserer Ambitionen zu leiden.«

»Wenn deine Ambitionen darin bestehen, zu einem Unglücksbringer zu werden«, erklärte Comandore scharf, »so solltest du dich schleunigst bessern.«

»Der junge Mann ist fähiger, als Sie denken«, warf Hein Huss ein. »Sehen Sie!« Er nahm die Puppe, spuckte ihr in den Mund, riß sich ein Haar aus und klemmte es in einen schmalen Ritz. »Jetzt hat er ein Hein Huss-Simulacrum, und er brauchte sich deswegen nicht einmal groß anzustrengen. Nun, Novize Salazar: Auf welche Weise gedenkst du, mich zu behexen?«

»So etwas würde ich natürlich nie wagen. Es kommt mir nur darauf an, meine Kommode zu füllen.«

Hein Huss nickte bestätigend. »Ein durchaus löbliches Bestreben. Sicher besitzt du auch ein Simulacrum von Isak Comandore?«

Sam Salazar warf seinem Meister einen unbehaglichen Blick zu. »Er hinterläßt nichts, was sich verwenden ließe. Er atmet selbst dann hinter vorgehaltener Hand, wenn sich auch nur eine leere Flasche in seinem Quartier befindet.«

»Lächerlich!« entfuhr es Hein Huss. »Wovor haben Sie denn Angst, Comandore?«

»Ich bin konservativ«, erwiderte Isak trocken. »Das eben war eine großzügige Geste von Ihnen, aber eines Tages könnte jene Puppe in die Hände eines Feindes fallen. Und dann werden Sie Ihren Großmut bitter bereuen.«

»Pah!« machte Hein Huss. »Meine Feinde sind alle tot – bis auf einige wenige, die es nicht wagen, sich mir zu zeigen.« Er klopfte Sam Salazar fest auf die Schulter.

»Morgen, Novize Sam Salazar, erwarten dich prächtige Dinge.«

»Und worum handelt es sich dabei?«

»Um Ehre und die Möglichkeit zur Selbstaufopferung. Lord Faide muß das Erste Volk um Erlaubnis bitten, den Dichtwald zu passieren, und das geht ihm gegen den Strich. Aber es bleibt ihm keine andere Wahl. Morgen, Sam Salazar, bestimme ich dich dazu, die Unterhändler zu führen. Dann besteht deine Aufgabe darin, Sturzgruben, Sicheln und Nesselfallen zu entdecken, so daß die wichtigeren Personen, die dir folgen, nicht zu Schaden kommen.«

Sam Salazar schüttelte den Kopf und wich zurück. »Bestimmt gibt es andere, die eine solche Ehre eher verdient hätten. Ich ziehe es vor, im hinteren Abschnitt der Kolonne zu bleiben, bei den Wagen.«

Comandore winkte ihn aus dem Zelt. »Du wirst dich an deine Befehle halten. Und nun geh: Wir haben genug vom Novizengeschwafel.«

Sam Salazar machte sich auf und davon, und Comandor wandte sich wieder an Hein Huss. »Was die morgige Schlacht angeht: Anderson Grimes kann besonders gut mit Dämonen umgehen. Wenn ich mich recht entsinne, hat er mehrere Elementargewalten zu beherrschen gelernt und sie auch schon zum Einsatz gebracht: Font, der Schlaf sät, Everid, ein Wesen des Zorns, und Deigne, eine Manifestation der Furcht. Wenn wir jenen Kräften zu begegnen versuchen, müssen wir sehr auf der Hut sein, damit wir uns nicht gegenseitig neutralisieren.«

»In der Tat«, brummte Huss. »Ich habe Lord Faide schon des öfteren darauf hingewiesen, daß ein einzelner Unglücksbringer

– jemand in meinem Range – weitaus mehr bewirken kann als eine ganze Gruppe von Leuten, die unterschiedliche Ziele verfolgen. Doch der Ehrgeiz macht den Lord taub, und deshalb hört er nicht auf mich.«

»Vielleicht möchte er sicher sein, daß andere und ebenso qualifizierte Personen zur Verfügung stehen, wenn der Oberste Unglücksbringer der schweren Bürde des Alters nachzugeben beginnt.«

»Der Pfad in die Zukunft weist viele Gabelungen auf«, pflichtete Hein Huss ihm bei. »Lord Faide ist gut beraten, schon frühzeitig nach einem Nachfolger für mich Ausschau zu halten, so daß ich den Betreffenden über die Jahre hinweg unterweisen und ausbilden kann. Ich beabsichtige, alle mir untergebenen Unglücksbringer einzuschätzen, und ich werde den wählen, der mir besonders vielversprechend erscheint. Und was die morgige Auseinandersetzung anbelangt: Die Dämonen Anderson Grimes’ überlasse ich Ihnen.«

Isak Comandore nickte höflich. »Es ist sehr klug von Ihnen, Verantwortlichkeiten zu delegieren. Ich hoffe, daß ich mit ebensolcher Weisheit handle, wenn ich das Gewicht der Jahre zu spüren beginne. Gute Nacht, Hein Huss! Ich muß mich um meine Dämonenmasken kümmern. Morgen soll Keyril ein wahrer Riese sein.«

»Gute Nacht, Isak Comandore!«

Comandore schlüpfte aus dem Zelt, und Huss machte es sich auf seinem Stuhl bequem. Kurz darauf kratzte Sam Salazar an der Zugangsplane. »Was ist denn, Junge?« knurrte Huss. »Warum zauderst du?«

Sam Salazar kam herein und legte das Hein Huss-Simulacrum auf den Tisch. »Ich möchte die Puppe nicht behalten.«

»Dann wirf sie doch weg!« erwiderte Huss barsch. »Hör auf damit, mich mit dummen Tricks zu ärgern. Du versuchst dauernd, meine Aufmerksamkeit zu erwecken, aber du sollst eins wissen: Ohne die ausdrückliche Einwilligung Comandores kannst du seine Truppe nicht verlassen, um dich mir anzuschließen.«

»Und wenn ich ihn um Erlaubnis bitte?«

»Damit würdest du dir seine Feindschaft zuziehen.

Bestimmt öffnet er dann seine Kommode und unternimmt etwas gegen dich. Im Gegensatz zu mir bist du nicht vor derartigen Hexereien geschützt. Ich rate dir, dich mit der gegenwärtigen Situation zufriedenzugeben. Isak Comandore ist ausgesprochen fähig und kann dich viel lehren.«

Sam Salazar zögerte noch immer. »Unglücksbringer Comandore mag durchaus fähig sein, aber er ist neuen Ideen gegenüber nicht sonderlich aufgeschlossen.«

Schwerfällig verlagerte Hein Huss sein Gewicht, wodurch der Stuhl unter ihm ächzte, und aus seinen kristallklaren Augen musterte er den jungen Novizen. »Und was sind das für neue Ideen? Stammen Sie von dir?«

»Es handelt sich tatsächlich um Überlegungen, die mir durch den Kopf gingen, doch im Denken Isak Comandores gibt es offenbar keinen Platz für sie. Ich habe ihm entsprechende Vorschläge unterbreitet: Er lehnte sie zwar nicht ab, nahm sie aber auch nicht an.«

Hein Huss seufzte und suchte nach einer bequemeren Haltung. »Also heraus damit! Beschreib mir deine Ideen, damit ich ihre Neuartigkeit beurteilen kann.«

»Zuerst einmal habe ich mir über Bäume Gedanken gemacht. Sie reagieren recht empfindlich auf Licht, Feuchtigkeit, Wind und Druck. Empfindsamkeit bedeutet Gefühl. Könnte sich ein Mensch in die Seele eines Baumes hineintasten, um dort nach solchen Gefühlen Ausschau zu halten? Wenn Bäume dazu fähig sind, ein Bewußtsein zu entwickeln, so könnte sich ein derartiger Versuch als nützlich erweisen. Daraus ergäbe sich die Möglichkeit, Bäume als Wächter an strategischen Stellen einzusetzen oder sie als Mitteilungsbrücken zu verwenden.«

Hein Huss war skeptisch. »Ein recht interessantes Konzept, das sich praktisch jedoch nicht verwirklichen läßt. Für das Lesen fremder Gedanken, die Kontrolle anderer Seelen, telepathische Beobachtung und ähnliche Dinge gibt es einegrundlegende Bedingung: psychische Übereinstimmung. Die betreffenden Bewußtseine müssen dazu in der Lage sein, zumindest auf einer gewissen Ebene zu einer gemeinsamen Identität zu verschmelzen. Ist das nicht der Fall, gibt es keine Verbindung. Du wirst mir sicher zugestehen, Sam Salazar, daß sich Bäume sehr von Menschen unterscheiden; die äußeren Formen lassen sich nicht zur Deckung bringen. Wenn sich demzufolge mehr ergibt als nur der Hauch eines mentalen Verstehens, so hätten wir es mit einem Wunder unserer Kunst zu tun.«

Der Novize nickte bekümmert. »Das war mir schon vor einer ganzen Weile klar, und daher hoffte ich darauf, die notwendige Identifikation herbeiführen zu können.«

»Dazu müßtest du zu einer Pflanze werden, denn einst steht fest: Ein Baum wird sich niemals in einen Menschen verwandeln.«

»Das dachte ich mir ebenfalls«, bestätigte Sam Salazar. »Aus diesem Grund ging ich allein in den Wald und wählte eine große Kiefer. Ich bedeckte meine Füße mit Humusboden und stand still und nackt – im Sonnenschein, im Regen. Morgens, mittags, abends, auch während der Nacht. Ich verdrängte alle menschlichen Gedanken aus meinem Bewußtsein, schloß die Augen, so daß ich nichts weiter sah als Dunkelheit, hielt mir die Ohren zu. Ich nahm keine Nahrung zu mir, sieht man einmal von Licht und Regen ab. Ich gab mir alle Mühe, von den Füßen und dem Torso aus Wurzeln wachsen zu lassen. Dreißig Stunden stand ich so, und zwei Tage später noch einmal dreißig, und dann wieder. Ich wurde so sehr zu einem Baum, wie es einem Wesen aus Fleisch und Blut möglich ist.«

Hein Huss gab ein gedämpftes Brummen von sich, das auf seine Belustigung hindeutete. »Und gelang es dir, eine geistige Verbindung herzustellen?«

»Eigentlich nicht«, gestand Sam Salazar ein. »Ich konnte einige Empfindungen des Baumes spüren – die Wärme des Sonnenscheins, den ruhigen Frieden der Dunkelheit, die Kühle des Regens. Doch was optische und akustische Erfahrungen betrifft – nichts. Allerdings bedaure ich mein damaliges Bemühen nicht. Es war ein recht nützliches Erlebnis.«

»Ein interessantes Unterfangen, wenn es auch ohne Erfolg blieb. Jene Idee ist keineswegs so neu, wie du vielleicht glaubst. Doch den Empirismus – um einen archaischen Ausdruck zu verwenden – deiner Methode kann man geradezu als kühn bezeichnen und erweckte ohne Zweifel den Unmut Isak Comandores, der von den abergläubischen Neigungen unserer Vorfahren nichts hält. Ich vermute, er warnte dich vor Banalitäten, metaphysischem Unsinn und Inspirationalismus.«

»Ja«, antwortete Sam Salazar. »Er hielt mir einen recht langen Vortrag.«

»Du solltest dir jene Lektion zu Herzen nehmen. Isak Comandore erweist sich manchmal als ein Mann, dem es nicht einmal gelingt, die einfachste Wahrheit glaubwürdig darzustellen. Ein anderes Beispiel ist Lord Faide, der sich selbst für einen aufgeklärten Mann hält, frei von jedem Aberglauben. Trotzdem fährt er mit einem Wagen, der jeden Augenblick auseinanderbrechen könnte; er trägt eine eintausendsechshundert Jahre alte Pistole bei sich und verläßt sich darauf, daß Höllenmaul Faidefeste schützt.«

»Vielleicht sehnt er sich unbewußt nach den alten magischen Zeiten zurück«, vermutete Sam Salazar nachdenklich.

»Möglich«, sagte Hein Huss. »Und was ist mit dir?«

Der Novize zögerte. »Jene Epoche scheint sich durch so etwas wie Romantik und eine Art wilde Pracht auszuzeichnen.« Rasch fügte Sam Salazar hinzu: »Aber natürlich ist Mystizismus kein angemessener Ersatz für orthodoxe Logik.«

»Selbstverständlich nicht«, stimmte Hein Huss zu.

»Geh jetzt. Ich muß über die morgigen Ereignisse nachdenken.«

Der junge Novize verließ das Zelt, und Hein Huss stemmte sich brummend und stöhnend in die Höhe, trat an die Zugangsplane heran und beobachtete das Lager. Inzwischen herrschte Stille. Von den Feuern war nur noch glühende Asche übriggeblieben, und die Ritter und Soldaten lagen in den Mulden, die sie ins Moos geschnitten hatten. Im Norden und Süden erstreckten sich die Dichtwälder. Hier und dort zwischen den Bäumen und auch an den Hügelhängen flackerte es ab und zu: Das Licht stammte vom Ersten Volk, das Sporenschoten aus dem Moos erntete.

Hein Huss spürte die Gegenwart eines anderen. Er drehte den Kopf und erkannte die verhüllte Gestalt des Unglücksbringers Enterlin, der sein Gesicht verbarg und nur im Flüsterton sprach, der sich, anstatt eine natürliche Gangart zu benutzen, steif und ruckartig bewegte. Auf diese Weise hoffte er, seine Anfälligkeit gegenüber feindlicher Unheilskunst zu mindern. Wenn jemand offen zeigte, daß er an Kurzsichtigkeit und Rheuma litt, daß er vergeßlich, schwermütig und melancholisch war, so mochte sich das bei Auseinandersetzungen mit gegnerischen Thaumaturgen als fatal erweisen. Aus diesem Grund versuchten Unglücksbringer immer den Eindruck zu erwecken, als strotzten sie geradezu vor Gesundheit und Lebenskraft – selbst dann, wenn sie eigentlich einen Krückstock benötigt hätten und angesichts der Krämpfe in ihrem geschwächten Leib am liebsten laut schreien würden.

Hein Huss winkte Enterlin zu und schlug die Zugangsplane zur Seite. Als der Besucher hereingekommen war, trat Huss an seine Kommode, holte eine Flasche hervor und goß zwei Krüge voll. »Reine Gastfreundschaft – frei von Heimtücke und Hinterhältigkeit.«

»Gut«, hauchte Enterlin und griff nach dem Becher, der am weitesten von ihm entfernt stand. »Schließlich sollten selbst wir Unglücksbringer uns dann und wann wie Menschen geben.« Er wandte sich von Huss ab, schob den Becher vorsichtig durch den Kapuzenschleier vor dem Gesicht und trank. »Erfrischend«, raunte er. »Und wir müssen frisch sein, denn morgen erwartet uns viel Arbeit.«

Huss lachte leise und brummend. »Morgen messen sich Isak Comandore und Anderson Grimes mit ihren Dämonen. Uns kommen nur zweitrangige Aufgaben zu.«

Durch die schwarze Gaze vor seinen Augen bedachte Enterlin den großen Hein Huss mit einem wachsamen Blick. »Gewiß wird sich Comandore über eine solche Gelegenheit freuen. Sein Ehrgeiz bedrückt mich. Er ist jemand, der den Erfolg ebenso braucht wie die Luft zum atmen – ein Mann des Feuers. Und Sie stellen den Gegenpol dar, das Eis.«

»Eis kann Feuer löschen.«

»Doch des öfteren neigt Feuer dazu, Eis zu schmelzen.«

Hein Huss zuckte mit den Schultern. »Spielt keine Rolle. Ich werde langsam müde. Die Zeit hat uns allen übel mitgespielt. Gerade erst eben hat mir ein junger Novize gezeigt, worauf es uns ankommen sollte.«

»Sie sind ein mächtiger Mann, der Oberste Unglücksbringer in den Diensten Lord Faides, und Sie haben allen Grund, stolz zu sein.«

Hein Huss trank seinen Krug aus und stellte ihn beiseite. »Nein. Ich habe zwar den Karriereberg unserer Profession erklommen und nunmehr den Gipfel erreicht, doch jetzt gibt es keine weiteren Ziele mehr für mich. Nur der Novize Sam Salazar interessiert sich für eine Erweiterung unseres allgemeinen Wissens. Er wandte sich an mich, weil er einen Rat suchte, und ich mußte ihn enttäuschen.«

»Das sind gar seltsame und sonderbare Worte!« flüsterte Enterlin. Er trat an die Zugangsplane heran. »Ich gehe jetzt«, raunte er, »um im Hügelland zu wandern. Vielleicht offenbart sich mir die Zukunft.«

»Es gibt nicht nur eine Zukunft, sondern dergleichen viele.«

Enterlin huschte fort und wurde zu einem Schatten, der sich in der Dunkelheit verlor. Hein Huss stöhnte und ächzte, wankte auf seine Liege zu, streckte sich darauf aus und schlief sofort ein.

II

Die Nacht verstrich. Die Sonne stieg über den Horizont, begleitet von grünen und purpurn leuchtenden Wolken. Vor dem lavendelfarbenen Himmel zeichnete sich die neue Pflanzung als eine dunkle Silhouette ab, eine dünne Stoppellinie aus jungen Bäumen. Mit flinkem Geschick brachen die Ritter und Soldaten das Lager ab. Lord Faide schritt auf seinen Wagen zu und stieg ein, und unter seinem Gewicht sackte das Gefährt ab. Er betätigte eine Taste, und die Maschine setzte sich in Bewegung, so schwerfällig wie ein mit Wasser vollgesogener Baumstamm.

Eine Meile vor der neuen Pflanzung hielt er an und schickte einen Kurier zu den Wagen der Unglücksbringer. Hein Huss wanderte unbeholfen los, gefolgt von Isak Comandore, Adam MacAdam und Enterlin. »Schicken Sie einen Botschafter zum Ersten Volk!« Faide wandte sich an Huss. »Teilen Sie ihm mit, daß wir den Wald passieren möchten und dabei nichts Böses im Schilde führen. Lassen Sie jedoch keinen Zweifel daran, daß wir im Falle von Feindseligkeiten mit aller Entschlossenheit reagieren werden.«

»Ich mache mich selbst auf den Weg«, erwiderte Hein Huss. Er sah Comandore an. »Geben Sie mir bitte Ihren vorwitzigen Novizen als Begleiter mit. Ich sorge dafür, daß er sich nützlich macht.«

»Wenn er eine verborgene Nesselfalle entdeckt, indem er hineinstolpert, hat er seine erste gute Tat vollbracht«, entgegnete Comandore. Er gab Sam Salazar ein Zeichen, und der junge Mann näherte sich ihm widerstrebend. »Geh vor dem Obersten Unglücksbringer Hein Huss und weise ihn rechtzeitig auf Fallen und Sturzgruben hin! Nimm einen Stock mit und untersuche damit das Moos!«

Ohne große Begeisterung lieh sich Sam Salazar von einem der Infanteristen eine Lanze aus. Dann brach er zusammen mit Hein Huss auf und wanderte über jene Anhöhe, die zuvor den Nördlichen vom Südlichen Dichtwald getrennt hatte. An einigen Stellen durchbrachen kleine Felsen die dicke Moosschicht. Hier und dort wuchsen Lorbeerbüsche, Teerpflanzen, Kamelheu, Ingwer und Rosenwurz.

Eine halbe Meile vor der Pflanzung blieb Huss stehen. »Von nun an gib acht, denn hier beginnen die Fallen. Meide kleine Erdbuckel, denn darin sind oftmals Schwingsensen versteckt. Weich den Stellen aus, an denen das Moos einen bläulichen Ton angenommen hat. Dort verwelkt es nämlich, und möglicherweise dient es dazu, Sturzgruben oder Nesselfallen zu bedecken.«

»Warum benutzen Sie nicht die Fähigkeit des Hellsehens, um die Fallen zu lokalisieren?« fragte Sam Salazar mit mürrisch und verdrießlich klingender Stimme. »Diese Gelegenheit scheint sich doch bestens für den Gebrauch solcher Fertigkeiten zu eignen.«

»Eine durchaus verständliche Frage«, erwiderte Hein Huss ruhig und gefaßt. »Doch du solltest wissen, daß ein Unglücksbringer nicht mehr auf seine Gefühle und Empfindungen vertrauen kann, wenn seine eigene Sicherheit unmittelbar bedroht wird. Vermutlich würde ich überall Fallen erkennen und nicht wissen, ob mir die Furcht einen Streich spielt oder sie tatsächlich existieren. Nein, in diesem Fall ist deine Lanze ein weitaus verläßlicheres Instrument als mein Geist.«

Sam Salazar nickte verstehend und ging wieder los. Hein Huss wankte einige Meter hinter ihm dahin. Zunächst stocherte der junge Novize mit großer Vorsicht im Moos herum und fand zwei Fallen. Anschließend jedoch schritt er immer rascher und übermütiger aus, bis Hein Huss verärgert rief: »Nicht so schnell, Junge! Sonst erwartet dich der sichere Tod.«

Daraufhin wurde Sam Salazar etwas langsamer. »Überall um uns herum sind Fallen versteckt, aber ich habe jetzt das Anordnungsmuster erkannt. Jedenfalls glaube ich das.«

»Ach, tatsächlich? Dann erklär es mir bitte, denn ich bin ja nur der Oberste Unglücksbringer und damit nichts weiter als ein unwissender Narr.«

»Sehen Sie nur: Wenn wir dort entlanggehen, wo kürzlich die Sporenschoten geerntet wurden, brauchen wir nichts zu befürchten.«

Hein Huss brummte. »Nun gut, also weiter! Verlier keine Zeit! Schließlich müssen wir heute noch gegen Ballantfeste in die Schlacht ziehen.«

Nach zweihundert Metern blieb Sam Salazar jäh stehen. »Weiter, Junge, weiter!« knurrte Hein Huss.

»Die Wilden bedrohen uns. Ich kann sie in der Pflanzung sehen. Sie tragen Rohre bei sich, die sie auf uns richten.«

Hein Huss hielt eine Zeitlang Ausschau, und dann hob er den Kopf und rief einige zischende Worte in der Sprache des Ersten Volkes.

Einige Sekunden verstrichen, und dann näherte sich ihnen eins der Geschöpfe: ein nacktes humanoides Wesen, so häßlich wie eine Dämonenmaske. Unter den Armen zeigten sich aufgeblähte Schaumbeutel, und orangefarben gesäumte Schaumschlitze deuteten nach vorn. Der Rücken war runzlig und beweglich: Die Haut diente als eine Art Blasebalg, der Luft durch die Schaumbeutel pumpte. Die Finger der recht großen Hände endeten in meißelförmigen Klingen, und der Schädel war mit Chitin gepanzert. Zu beiden Seiten des Kopfes glitzerten große Facettenaugen, die sich aus Myriaden von Linsen zusammensetzten. Sie alle funkelten im Glanz schwarzer Opale, und ohne erkennbare Trennung vereinten sie sich mit dem Chitin. Jenes Wesen gehörte zu den Urbewohnern dieses Planeten. Bevor die Menschen kamen, lebten die Eingeborenen im Hügelland, gruben Stollen ins Moos und schützten sich mit Schaummassen aus den Beuteln unter den Armen.

Das Geschöpf kam heran und blieb stehen. »Ich spreche für Lord Faide von Faidefeste«, sagte Huss. »Eure Pflanzung blockiert seinen Weg. Er bittet euch darum, ihn hindurchzuführen, so daß eure Bäume keinen Schaden nehmen und seine Männer nicht die Fallen auslösen, die ihr errichtet habt, um eure Feinde fernzuhalten.«

»Die Menschen sind unsere Feinde«, erwiderte der Autochthone. »Löst so viele Fallen aus, wie ihr wollt – gerade darin besteht ja ihr Zweck.« Er wich zurück.

»Einen Augenblick!« sagte Hein Huss rasch. »Lord Faide muß die Pflanzung passieren. Er zieht gegen Lord Ballant in die Schlacht. Ihm ist nichts daran gelegen, gegen das Erste Volk zu kämpfen. Deshalb wäre es ratsam, wenn ihr ihn so schnell wie möglich durch die Pflanzung geleitet.«

Das Wesen dachte kurz nach. »Ich bin einverstanden und übernehme diese Aufgabe selbst.« Und über das Moos hinweg schritt es in Richtung der wartenden Streitmacht.

Hein Huss und Sam Salazar folgten ihm. Die Beine des Autochthonen waren flexibler als die von Menschen, und daher hatte es den Anschein, als schlängelte er sich dahin. Dann und wann blieb er stehen und betrachtete aufmerksam das sich vor ihm erstreckende Gelände.

»Der Fremde verwirrt mich«, wandte sich Sam Salazar an Hein Huss. »Die Verhaltensweise jenes Wesens ist mir rätselhaft.«

»Das wundert mich nicht«, brummte Hein Huss. »Es gehört zum Ersten Volk, und du bist ein Mensch. Es gibt also keine gemeinsame Basis für ein gegenseitiges Verstehen.«

»Dem kann ich nicht zustimmen«, sagte Sam Salazar ernst.

»Bitte?« Hein Huss bedachte den Novizen mit einem finsteren Blick. »Willst du mich etwa herausfordern, mich, den Obersten Unglücksbringer Hein Huss?«

»Das käme mir nie in den Sinn«, versicherte ihm Sam Salazar. »Allerdings haben wir meiner Meinung nach doch etwas mit dem Ersten Volk gemeinsam: unser Bestreben, zu überleben.«

»Eine Binsenwahrheit«, grollte Hein Huss. »Und worin besteht deine Verwirrung angesichts dieser Interessengleichheit?«

»Mir gibt der Umstand zu denken, daß das Wesen erst ablehnte und sich dann doch bereiterklärte, uns durch die Pflanzung zu führen.«

Hein Huss nickte. »Offenbar änderte es seine Meinung aufgrund der Information, daß wir gegen Ballantfeste in den Kampf ziehen.«

»Zu diesem Schluß bin ich ebenfalls gelangt«, antwortete Sam Salazar. »Aber denken Sie nur…«

»Du wagst es, mich zum Denken zu ermahnen?« donnerte der Baß Hein Huss’.

»Wir haben es mit einem Repräsentanten des Ersten Volkes zu tun, und er scheint sich nicht von seinen Artgenossen zu unterscheiden. Dennoch traf er sofort eine Entscheidung. Handelt es sich um eine hochrangige Person, ein Stammesoberhaupt vielleicht? Oder lebt das Erste Volk in Anarchie?«

»Es ist einfach, Fragen zu stellen«, erwiderte Hein Huss schroff. »Ganz im Gegensatz dazu, sie zu beantworten.«

»Kurz gesagt…«

»Kurz gesagt: Ich weiß es nicht. Aber wie dem auch sei: Offenbar freut sich das Erste Volk, wenn wir Menschen uns gegenseitig umbringen.«

III

Ohne Zwischenfall gelangte die Streitmacht durch die Pflanzung. Eine Meile weiter im Osten trat der Autochthone beiseite, und ohne ein Wort zu verlieren, kehrte er in den Wald zurück. Die Ritter und Soldaten, die bis dahin hintereinander gegangen waren, fanden sich wieder zu Kompanien zusammen. Lord Faide bestellte Hein Huss zu sich, und wie üblich forderte er ihn dazu auf, auf dem Sitz neben ihm Platz zu nehmen. Der alte Wagen neigte sich von einer Seite zur anderen und sackte durch. Der Motor heulte auf und stotterte. Doch Lord Faide war so gut gelaunt, daß er das Wimmern der Maschine ignorierte. »Ich fürchtete schon, wir könnten in eine Auseinandersetzung geraten, die uns viel Zeit gekostet hätte. Was ist mit Lord Ballant? Können Sie seine Gedanken lesen?«

Hein Huss erweiterte sein Bewußtsein. »Nur recht undeutlich. Er ist besorgt.«

Lord Faide lachte zufrieden. »Und er hat auch allen Grund dazu! Hören Sie mir jetzt gut zu: Ich möchte Ihnen den Schlachtplan erläutern, so daß alles gut aufeinander abgestimmt werden kann.«

»In Ordnung.«

»Wir rücken in fächerartig auseinandergezogener Formation vor. Die wichtigste Waffe Ballants ist natürlich Vulkan. Ein Lockvogel soll meine Rüstung tragen und die Spitze übernehmen. Der blonde Novize scheint mir der entbehrlichste Angehörige unserer Truppe zu sein. Nun, er wird uns helfen, uns ein Bild von den Möglichkeiten Vulkans zu machen. Ebenso wie bei unserem Höllenmaul handelt es sich dabei um eine Waffe, die gegen anfliegende Raumschiffe zum Einsatz gebracht werden sollte, und deshalb kann man damit nichts gegen einen Feind ausrichten, der sich in unmittelbarer Nähe der Bastion befindet. Aus diesem Grund stoßen wir einzeln vor und formieren uns erst zweihundert Meter vor der Feste. Anschließend müssen die Unglücksbringer dafür sorgen, daß Lord Ballant seine Feste verläßt. Bestimmt haben Sie bereits entsprechende Pläne entwickelt.«

Hein Huss bestätigte das mit einem dumpfen Brummen. Wie seine Kollegen aus der Unheilszunft gefiel es ihm, den Eindruck zu erwecken, als könne er jederzeit, sozusagen aus dem Stegreif, beliebige Situationen kontrollieren.

Lord Faide war nicht in der Stimmung, höfliche Rücksicht zu nehmen, und er verlangte weitere Auskünfte. Hein Huss ärgerte sich über jedes einzelne Wort, als er seine Vorbereitungen schilderte. »Ich habe mir gewisse Dinge überlegt, um Unruhe in die Reihen des Gegners zu bringen und die Krieger Ballants zu verwirren. Unglücksbringer Enterlin wird an seiner Kommode sitzen, bereit dazu, unverzüglich Vergeltung zu üben, sollte Lord Ballant die Anweisung geben, einen Zauber gegen uns einzusetzen. Zweifellos hat Anderson Grimes die Absicht, die Entschlossenheit der Ballant-Kämpfer mit einem Dämon zu verstärken, vermutlich mit Everid. Dem begegnen wir, indem Unglücksbringer Comandore ebenso viele – oder sogar noch mehr – Faide-Soldaten mit der Dämonenkraft Keyrils ausstattet, der noch schrecklicher und grauenhafter ist.«

»Gut. Und sonst?«

»Mehr dürfte nicht notwendig sein, wenn Ihre Männer tapfer kämpfen.«

»Können Sie in die Zukunft sehen? Wie geht die Schlacht aus?«

»Die Zukunft hält viele Möglichkeiten bereit. Bestimmte Unglücksbringer – Enterlin zum Beispiel – behaupten, sie sähen den Weg, der durch das Labyrinth führt. Aber meistens irren sie sich.«

»Rufen Sie Enterlin hierher!«

Hein Huss gab ein mißbilligendes Brummen von sich. »Das wäre nicht sonderlich klug, wenn es Ihnen auf einen Sieg über Ballantfeste ankommt.«

Lord Faide hob die buschigen Augenbrauen und musterte den großen und massigen Hein Huss. »Wie soll ich das verstehen?« »Wenn Enterlin Ihnen eine Niederlage prophezeit, verlieren Sie den Mut und führen den Kampf nicht mit der nötigen Entschlossenheit. Sagt er Ihnen hingegen den Sieg voraus, sind Sie zu sicher, und das könnte sich ebenfalls als fatal erweisen.«

Lord Faide gestikulierte aufgebracht. »Es ist typisch für Unglücksbringer, sich zunächst zu rühmen – bis sie auf die Probe gestellt werden. Dann suchen sie nach Ausflüchten und Gründen, ihr Versagen zu rechtfertigen.«

»Ha ha!« lachte Hein Huss donnernd. »Sie erwarten Wunder und keine wahre Unheilskunst. Ich spucke«, – er spuckte wirklich –, »und ich sage voraus, daß der Speichel aufs Moos fällt. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist ziemlich hoch. Aber er könnte auch ein Insekt treffen, das gerade in diesem Augenblick vorbeifliegt. Oder einen Vertreter des Ersten Volkes, der einen Stollen gegraben hat und hier an die Oberfläche kommt. Das erscheint schon wesentlich unwahrscheinlicher. Im Jetzt gibt es nur eine mögliche Zukunft. In einigen Sekunden schon vier, und in fünf Minuten zwanzig. Selbst eine Milliarde Alternativen könnten nicht das ganze Entwicklungspotential des morgigen Tages zum Ausdruck bringen. Von dieser Milliarde sind einige wahrscheinlicher als andere. Es stimmt schon: Manchmal haben all diese Möglichkeiten einen gewissen Einfluß auf das Bewußtsein eines Unglücksbringers. Doch wenn er nicht völlig objektiv und gleichgültig ist, überstrahlt das Licht seiner Wünsche die wenigen Zukunftsschatten. Enterlin ist recht seltsam. Er versteckt sein Gesicht hinter einem Kapuzenschleier, und so etwas wie Begierden scheint er nicht zu kennen. Gelegentlich stellen sich seine Prophezeiungen als richtig heraus. Trotzdem rate ich Ihnen davon ab, ihn zu befragen. Sie sollten eher der praktischen Anwendung der Unheilskunst vertrauen.«

Lord Faide gab keine Antwort. Die Kolonne rückte an der tiefsten Stelle einer niedrigen Senke vor, und der Wagen glitt am Hang eines kleinen Hügels herab. Kurz darauf erreichte die Streitmacht eine Anhöhe, und der Motor des Fahrzeuges, in dem Faide und Hein Huss saßen, heulte so sehr, daß der Lord sich dazu gezwungen sah, den Wagen anzuhalten. Er überlegte eine Weile. »Vom Kamm aus können wir Ballantfeste sehen. Unsere Leute müssen sich nun verteilen. Schicken Sie den unwichtigsten Mann Ihrer Truppe aus – den Novizen, der im Moos nach Fallen suchte. Er soll meinen Helm und Harnisch tragen und im Wagen fahren.«

Erleichtert kehrte Hein Huss an das Ende der Kolonne zurück und gab Sam Salazar Bescheid, der sich kurz darauf dem Lord näherte. Voller Abscheu musterte Faide das rundliche rosige Gesicht. »Komm zu mir!« befahl er schroff. Sam Salazar gehorchte. »Du wirst jetzt meinen Platz einnehmen. Achte auf diese Dinge: Mit dem Hebel hier läßt sich die Vorwärtsbewegung des Wagens kontrollieren. Mit dem anderen kann man steuern, nach rechts und links. Um anzuhalten, schiebt man den ersten Hebel einfach in die ursprüngliche Position zurück.«

Sam Salazar deutete auf einige der anderen Instrumente, auf die Kippschalter, Tasten und Knöpfe. »Was ist damit?«

»Sie werden nicht benutzt.«

»Und was hat es mit diesen Anzeigen auf sich?«

Lord Faide schürzte die Lippen und stand dicht vor einem der für ihn so typischen Wutanfälle. »Da sie für mich keine Rolle spielen, sind sie für dich noch zwanzigmal bedeutungsloser.

Los jetzt! Setz die Kappe auf, und dann auch den Helm. Und achte darauf, daß du nicht schwitzt.«

Sam Salazar preßte sich das Schutztuch aufs struppige Haar, und anschließend griff er nach dem prächtigen Helm, der mit einem schwarzen und grünen Kamm geschmückt war.

»Und jetzt der Harnisch.«

Er bestand aus grünen und schwarzen Metallschuppen, und rechts und links auf der Brustplatte schimmerten scharlachrote Drachenköpfe.

»Und nun der Mantel.« Lord Faide streifte dem jungen Novizen seinen Umhang über die Schultern. »Wag dich nicht zu nahe an Ballantfeste heran. Du sollst den Gegner dazu veranlassen, das Feuer Vulkans gegen dich einzusetzen. Bleib ständig in Bewegung, außerhalb der Pfeilreichweite. Wenn du durch ein solches Geschoß ums Leben kommst, war das ganze Täuschungsmanöver umsonst.«

»Sie hätten es vermutlich lieber, wenn Vulkan mich tötet?« erkundigte sich Sam Salazar.

»Nein. Ich möchte vermeiden, daß der Wagen und der Helm Schaden nehmen. Es sind Relikte von großem Wert. Wenn es eben möglich ist, müssen sie geschont werden. Vermutlich wird der Trick niemanden in die Irre führen. Aber wenn das doch der Fall ist, wenn das Feuer Vulkans lodert, so muß ich eben den Faide-Wagen opfern. Nun gut. Nimm hier Platz.«

Sam Salazar stieg in den Wagen und kam der Aufforderung des Lords nach.

»Sitz aufrecht!« fuhr Lord Faide ihn an. »Kopf hoch! Du sollst aussehen wie Lord Faide! Erweck nicht den Anschein eines ängstlichen Kümmerlings!«

Sam Salazar richtete sich so weit auf, wie es ihm möglich war.

»Um wirklich für Lord Faide gehalten zu werden, sollte ich inmitten der Soldaten marschieren. Vielleicht wäre es besser, wenn jemand anders den Wagen fährt…«

Lord Faide starrte ihn finster an und lächelte dünn. »Spielt keine Rolle: Verhalt dich so, wie ich es dir auftrug.«

IV

Vor eintausendsechshundert Jahren, während im All ein Krieg tobte, suchten einige Offiziere der Raumflotte, deren Heimatbasen zerstört worden waren, auf Pangborn Zuflucht. Um rachsüchtigen Feinden gegenüber gewappnet zu sein, demontierten sie ihre Kreuzer und verwendeten das Material, um große waffenstarrende Festungen zu errichten.

Irgendwann endete der Krieg, und man vergaß Pangborn. Die menschlichen Flüchtlinge verdrängten das Erste Volk in die Wälder und siedelten in den Flußtälern, die sie urbar machten. Die Mauern von Ballantfeste erhoben sich auf einer Anhöhe am Rande eines solchen Tales, ebenso wie es bei der Bastion der Faides, Wolkenschloß, Boghoten und den anderen Festungen der Fall war. Vier gedrungene Türme aus einem dichten schwarzen Baustoff stützten ein riesiges gewölbtes Dach. Darunter erstreckten sich Wände, die nicht ganz so hoch waren wie die Türme. Aus der Mitte des Daches ragte eine Kuppel, in der Vulkan installiert war – jene Waffe, die dem Höllenmaul Faides entsprach.

Als die Streitmacht der Angreifer den letzten Höhenzug hinter sich brachte, sahen die Krieger von Faidefeste, daß die großen Tore der gegnerischen Bastion bereits geschlossen waren, und auf den Wehrgängen wimmelte es geradezu von Bogenschützen. Gemäß der Strategie Lord Faides rückten die Ritter und Soldaten auf breiter Front vor. Die Spitze bildete Sam Salazar, prächtig gekleidet in die Rüstung des Lords. Allerdings gab er sich kaum Mühe, der Ehre Lord Faides gerecht zu werden. Anstatt voller Stolz aufrecht zu sitzen, kauerte er sich hinter den Kontrollen des Wagens zusammen, und der prächtige Helm war ihm bereits halb vom Kopf gerutscht. Lord Faide beobachtete den Novizen voller Verachtung. Andererseits war das Widerstreben Salazars, sich von Vulkan verbrennen zu lassen, durchaus verständlich: Wenn es ihm nicht gelang, Lord Ballant davon zu überzeugen, der Herr von Faidefeste zu sein, so nahm der Wagen keinen Schaden. Daß die gräßliche Waffe zum Einsatz bereit war, daran konnte kein Zweifel bestehen: Deutlich sahen sie den Ballant-Kanonier in der Kuppel, und der Lauf Vulkans neigte sich in einem bedrohlichen Winkel nach unten.

Die Taktik, dem Gegner kein einzelnes verlockendes Ziel zu bieten, erbrachte offenbar den erhofften Erfolg. Die Streitmacht Lord Faides stieß innerhalb kurzer Zeit bis zu einem Bereich vor, der nur noch zweihundert Meter von der Feste entfernt war, und das bedeutete, daß Vulkan nicht mehr wirkungsvoll gegen sie verwendet werden konnte. Erst kamen die Ritter, dann die Infanteristen, und den Abschluß bildeten die dahinpolternden Wagen der Magier. Das nur langsam und im Zickzack dahingleitende Fahrzeug des Lords blieb weit zurück, und dieser Umstand mußte in Hinsicht auf die Identität desjenigen, der es steuerte, bei den Verteidigern jeden Zweifel ausräumen.

Novize Salazar fand gar keinen Gefallen daran, völlig allein zu sein, und er berührte einige Tasten des Instrumentenpultes vor ihm, in der Hoffnung, dadurch die Geschwindigkeit des Wagens erhöhen zu können. Irgendwo weiter unten sirrte etwas, das Fahrzeug erzitterte und stieg in die Höhe. Sam Salazar blickte nach unten, streckte ein Bein nach draußen und machte Anstalten zu springen. Lord Faide lief los, ruderte mit den Armen und schrie. Daraufhin kroch Sam Salazar rasch ins Innere des Gefährts zurück und drückte einige andere Knöpfe. Der Wagen fiel wie ein Stein. Hastig berührte er die ersten Tasten, und die Fallgeschwindigkeit reduzierte sich.

»Raus aus dem Wagen!« brüllte Lord Faide. Mit der einen Hand nahm er dem Novizen den Helm ab, und mit der anderen versetzte er ihm einen Schlag, der ihn zu Boden schleuderte. »Zieh den Harnisch aus und kehr zu deinen Pflichten zurück!«

Sam Salazar eilte auf die Abteilung der Unglücksbringer zu, und dort half er beim Aufbau des schwarzen Zeltes Comandores. Im Innern wurde ein dunkler und mit roten und gelben Mustern versehener Teppich ausgerollt. Anschließend trug man sowohl die Kommode Comandores herein, als auch seinen Stuhl und die Truhe. Ein Bediensteter brachte die Räucherpfanne und entzündete Weihrauch. Direkt vor dem Haupttor überwachte Hein Huss die Montage eines auf Rädern ruhenden Podestes, das mehr als zwölf Meter hoch und fast zwanzig Meter breit war. Eine lange Plane verwehrte den Ballant-Beobachtern den Blick auf die obere Fläche.

Unterdessen schickte Lord Faide einem Emissär aus, der Lord Ballant zur Kapitulation auffordern sollte. Ballant ließ sich jedoch Zeit mit der Antwort, offenbar in der Absicht, den Angriff so lange wie möglich hinauszuzögern. Wenn es ihm gelang, die Gegner anderthalb Tage lang hinzuhalten, so mochte die von Gisbornefeste und dem Wolkenschloß eintreffende Verstärkung Lord Faide zum Rückzug veranlassen.

Lord Faide wartete nur, bis die Unglücksbringer ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatten. Kaum war das der Fall, schickte er einen zweiten Botschafter, der Lord Ballant dazu aufforderte, sich innerhalb von zwei Minuten zu ergeben.

Sechzig Sekunden verstrichen, dann hundertzwanzig. Die vor dem Tor wartenden Unterhändler drehten sich um und kehrten ins Lager zurück.

»Sind Sie bereit?« erkundigte sich Lord Faide bei Hein Huss.

»Das bin ich«, lautete die brummende Antwort.

»Dann verpassen Sie ihnen einen Denkzettel.«

Huss hob die Arme, und die Plane wurde von dem Podest gezogen. Auf der oberen Fläche zeigte sich ein detailliertes Abbild der Ballantfeste.

Huss zog sich in sein Zelt zurück und schloß den Zugang. Feuer brannte in Kohlepfannen, und der flackernde Schein der Flammen erhellte die Gesichter von Adam MacAdam, acht Kabbalisten und sechs der fähigsten Thaumaturgen. Die Kabbalisten und Thaumaturgen arbeiteten mit Puppen, die Ballant-Soldaten darstellten. Huss und Adam MacAdam nahmen sich Simulacren der Ballant-Ritter vor. Lord Ballant sollte erst dann behext werden, wenn er seine Unglücksbringer anwies, ihre Unheilskunst Lord Faide gegenüber zum Einsatz zu bringen. In der Regel verzichteten die Herren der Bastionen darauf, sich mit solchen Dingen zu belästigen.

»Sebastian!« rief Huss.

Sebastian gehörte zu den Thaumaturgen Huss’, und er wartete an der Zugangsplane des Zeltes und antwortete: »Alles klar.«

»Dann los!«

Sebastian eilte an das Podest heran und setzte eine Zündschnur in Brand. Die Beobachter auf den Wehrgängen der Ballantfeste sahen zu, wie das große Bild ihrer Bastion Feuer fing. Flammen leckten aus den Fenstern, und das Dach brannte und stürzte ein. Im Innern des Zeltes machten sich die beiden Unglücksbringer zusammen mit den Kabbalisten und Thaumaturgen methodisch daran, einzelne Puppen in die Kohlenglut zu halten, und sie konzentrierten sich und tasteten mental nach den Bewußtseinen derjenigen, die von den Simulacren repräsentiert werden sollten. Innerhalb der Feste begannen viele Männer unruhig zu werden. Die meisten von ihnen hatten das Gefühl, als sei es plötzlich sehr heiß geworden, und diese Empfindungen verstärkten sich, als die Vorstellungen von Feuer intensiver wurden. Lord Ballant bemerkte das Unbehagen seiner Kämpfer. Er winkte seinem Obersten Unglücksbringer Anderson Grimes zu und sagte: »Beginnt mit dem Gegenzauber!«

An der vorderen Seite der Festung wurde eine Leinwand entrollt, die noch größer war als das Bild, das Hein Huss geschaffen hatte. Es zeigte ein gräßliches Ungeheuer. Das Monstrum stand auf vier Beinen, und in seinen beiden Pranken hielt es zwei Menschen, deren Köpfe es gerade abbiß. Währenddessen nahmen die Kabbalisten Grimes’ die Puppen zur Hand, die die Krieger Faides darstellten; sie schoben sie in Modelle des gemalten Ungeheuers, klappten die Kiefer zu und projizierten gleichzeitig Gefühle wie Furcht und Entsetzen. Und die Faide-Kämpfer starrten auf das abscheuliche Wesen und verspürten Angst und Grauen.

Im Zelt Hein Huss’ qualmten die Kohlenpfannen und dampften die Puppen. Augen starrten trüb, und Brauen verschmorten. Von Zeit zu Zeit keuchte einer der Thaumaturgen – wenn es ihm gelang, die Barrieren eines anderen Bewußtseins zu durchstoßen. Einige der Ballant-Soldaten wankten und taumelten, schlugen um sich, um unsichtbare Flammen zu ersticken. Die Krieger beobachteten sich gegenseitig, und voller Furcht sahen sie die Symptome auch bei den Gefährten. Schließlich konnte sich einer von ihnen nicht mehr beherrschen. Er schrie laut auf und zerrte an seiner Rüstung. »Das Feuer! Die verdammten Hexer verbrennen mich!« Seine offensichtliche Pein verschlimmerte die Lage der anderen Kämpfer, in deren Reihen das Stöhnen immer lauter wurde.

Hein Huss höchstpersönlich nahm sich die Seele des ältesten Sohnes Ballants vor, und der junge Mann hieb mit der Faust auf seinen Schild. »Sie verbrennen mich!

Sie verbrennen uns alle! Es ist besser zu kämpfen, als im Feuer zu sterben!«

»Kämpfen! Kämpfen!« ertönte es aus den Kehlen der gequälten Soldaten.

Lord Ballant sah sich um und blickte in schmerzverzerrte Gesichter, in denen sich bereits erste Brandblasen gebildet hatten. »Unser Gegenzauber macht dem Feind angst«, erwiderte er beschwörend. »Wartet noch.«

Sein Bruder erwiderte heiser: »Himmel, es ist ja auch nicht dein Bauch, den Hein Huss langsam röstet, sondern meiner! Eine thaumaturgische Schlacht können wir nicht gewinnen – wohl aber einen Kampf mit Waffen aus Stahl!«

»So geduldet euch doch!« rief Lord Ballant verzweifelt. »Unsere Bemühungen bleiben nicht erfolglos! Jeden Augenblick wird der Gegner die Flucht ergreifen.«

Sein Vetter riß sich den Harnisch vom Leib. »Es ist Hein Huss! Ich kann ihn spüren! Er läßt Flammen an meinen Beinen entlangzüngeln, und bestimmt nimmt er sich gleich meinen Kopf vor. Wenn du nicht sofort den Befehl zum Kampf gibst, stürme ich allein los!«

»Nun gut«, entgegnete Lord Ballant düster. »So sei es denn – ziehen wir in die Schlacht. Aber zuerst – das Ungeheuer. Wir folgen dem Monstrum und lehren den Feind, was wahres Grauen bedeutet.«

Weit schwangen die Festungstore auf. Und es sprang etwas nach draußen, das aussah wie das auf der Leinwand dargestellte Ungeheuer. Die Beine stampften auf den Boden, und die großen Pranken öffneten und schlossen sich. Mit blitzenden Augen stürmte es den Angreifern entgegen, und es stimmte dabei ein donnerndes Gebrüll an. Normalerweise hätten die Faide-Krieger das Monstrum als das erkannt, was es in Wirklichkeit war: eine besonders große Puppe, die auf den Rücken von drei Pferden ruhte. Doch die Kabbalisten Lord Ballants hatten Einfluß auf ihr Denken genommen: Schrecken nagte an ihren Seelen, und entsetzt wichen sie langsam zurück. Hinter dem Ungetüm galoppierten die Ballant-Ritter, gefolgt von den Infanteristen. Der Vorstoß wurde mit großer Entschlossenheit geführt und schuf eine Schneise in der mittleren Front der Streitmacht Faides. Lord Faide rief einige Befehle, und Disziplin siegte über das Chaos. Seine Ritter setzten sich zunächst ab, teilten sich in drei Kompanien und gingen zum Gegenangriff über, während die Infanteristen gegen die Soldaten Lord Ballants vorrückten.

Eine wilde Schlacht begann. Lord Ballant stellte fest, daß sein Ausfall den Gegner nicht in die Flucht geschlagen hatte, und daraufhin hielt er es für besser, seine Truppen wieder zusammenzuziehen, und befahl den Rückzug. Seine Kämpfer wandten sich der Feste zu, doch die Ritter Faides folgten ihnen dichtauf, in der Hoffnung, die Tore passieren zu können. Hinter ihnen rumpelte ein Wagen, der von einem mit ledernen Behängen geschütztem Pferd gezogen wurde und offenbar so am Tor plaziert werden sollte, daß es nicht mehr geschlossen werden konnte.

Lord Faide gab eine weitere Anweisung. Eine aus zehn Rittern bestehende Reserveeinheit griff von der einen Flanke her an, wich den Reitern Ballants aus, galoppierte durch die Reihen der Infanteristen, kämpfte sich den Weg in die Feste frei und setzte die Torwächter außer Gefecht.

Und Lord Ballant winkte Anderson Grimes herbei und grollte: »Es ist dem Feind gelungen, in die Feste vorzustoßen.

Beeilen Sie sich mit dem verdammten Dämonen! Rufen Sie ihn rasch, auf daß er uns helfen kann!«

»Das Beschwören von Dämonen dauert eine Weile«, antwortete der Unglücksbringer. »Ich brauche Zeit.«

»Aber die bleibt uns nicht! In zehn Minuten sind wir alle tot!«

»Ich werde mir alle Mühe geben. Everid, Everid, eil herbei!«

Anderson Grimes nahm die Beine in die Hand und begab sich in sein Arbeitszimmer. Dort angekommen, setzte er die Dämonenmaske auf und ließ immer wieder Weihrauch in die Kohlenpfanne fallen. An der einen Wand stand eine riesenhafte Gestalt: schwarz, schlitzäugig, ohne Nase. Große weiße Reißzähne ragten aus dem Oberkiefer. Das Wesen stand auf dicken gekrümmten Beinen, und die langen Arme waren ausgestreckt, so als wolle es jemanden packen. Anderson Grimes trank einen Becher Sirup und schritt langsam auf und ab. Einige Sekunden verstrichen.

»Grimes!« rief Ballant von draußen. »Grimes!«

Und eine Stimme antwortete: »Tritt ohne Furcht ein!«

Lord Ballant hatte inzwischen die Waffe seiner Vorfahren an sich genommen und kam der Aufforderung nach. Unmittelbar darauf schnappte er nach Luft und wich unwillkürlich zurück. »Grimes!« hauchte er.

»Grimes ist nicht da«, antwortete die Stimme. »Ich habe seinen Platz eingenommen. Komm!«

Zögernd kam Lord Ballant näher. Nur das Glühen der Kohlenpfanne erhellte das Zimmer. Anderson Grimes hockte in der einen Ecke, das Gesicht hinter der Dämonenmaske verborgen. In den dunklen Schatten bewegten sich Schemen, tanzten unstet hin und her und schienen bemüht zu sein, Substanz zu gewinnen. Die schwarze Gestalt an der Wand wirkte plötzlich sehr lebendig.

»Hol deine Krieger herbei!« verlangte die Stimme. »Jeweils fünf von ihnen sollen eintreten und den Blick so lange zu Boden gerichtet halten, bis sie den Befehl bekommen, den Kopf zu heben.«

Lord Ballant verließ das Zimmer, in dem es daraufhin völlig still wurde.

Nach einer Weile wankten fünf erschöpfte Kämpfer in den Raum, und sie starrten auf den Boden. »Seht langsam auf!« erklang die Stimme. »Blickt in die orangefarbene Glut. Atmet tief durch. Und dann seht mich an. Ich bin Everid, der Dämon des Hasses. Seht mich an. Wer bin ich?«

»Du bist Everid, der Dämon des Hasses«, lautete die unsichere Antwort der Krieger.

»Ich bin ständig bei euch, in Dutzenden von Gestalten… Ich komme noch näher heran. Wo bin ich?«

»Du bist hier bei uns. Wir sind zusammen.«

Ein jähes Vibrieren, eine Bewegung, die das ganze Zimmer zu erfassen schien. Die Kämpfer richteten sich auf, und ihre Gesichter sahen aus wie Fratzen.

»Geht nun!« sagte die Stimme. »Begebt euch ruhig auf den Hof. In einigen Minuten marschieren wir los und töten den Feind.«

Die fünf Männer verließen den Raum, und weitere fünf traten ein.

Draußen hatten sich die Ballant-Ritter inzwischen bis ans Tor zurückgezogen. Einige der vorgestoßenen Krieger Faides lebten noch, und sie kämpften mit dem Rücken an der Wand, bestrebt, die Verteidiger vom Tormechanismus fernzuhalten.

Im Lager Faides wandte sich Huss an Comandore. »Everid ist beschworen. Rufen Sie Keyril herbei!«

»Schickt die Männer aus!« erklang die gleichzeitig dumpfe und scharfe Stimme Comandores. »Schickt sie zu mir! Ich bin Keyril.«

In der Feste traten zwanzig Krieger auf den Hof. Sie bewegten sich langsam und zögernd, und die individuellen Züge waren aus ihren Gesichtern verschwunden. Ihre Mienen wirkten verzerrt, wie Masken, die eine erstaunliche Ähnlichkeit aufwiesen.

»Verhext!« flüsterten die Ballant-Soldaten und wichen zurück. Die überlebenden sieben Faide-Ritter starrten die zwanzig Krieger erschrocken an. Doch die schenkten ihnen überhaupt keine Beachtung und marschierten durchs Tor. Die Ballant-Kämpfer machten Platz, und für einige Sekunden verklang der Lärm der Schlacht. Dann griffen die zwanzig Dämonen-Krieger an. Wie Tiger sprangen sie, und immer wieder holten sie mit ihren Schwertern aus, deren Klingen hell blitzten. Sie duckten sich, hieben auf die Gegner ein und drangen weiter vor. Scharfer Stahl bohrte sich in die Leiber von Faide-Soldaten, trennten Arme, Beine und Köpfe ab. Die zwanzig Krieger trugen ebenfalls tiefe Wunden davon, aber offenbar machte ihnen das überhaupt nichts aus.

Der Faide-Angriff verlor an Wucht. Die Ritter, deren Rüstungen nicht vor den dämonischen Schwertern schützten, zogen sich zurück. Die zwanzig besessenen Soldaten stürmten weiter und gingen gegen die Infanteristen vor. Mit langen Schritten marschierten sie, und immer wieder holten sie mit den breiten Klingen aus und schlugen auf die Feinde ein. Die Soldaten Faides leisteten eine Zeitlang Widerstand, doch dann mußten sie ebenfalls fliehen.

Hinter dem Zelt Comandores traten dreißig Faide-Krieger hervor, und sie bewegten sich langsam und steifbeinig. Wie im Falle der zwanzig Ballant-Kämpf er ähnelten sich ihre verzerrten Gesichter – doch zwischen ihnen und den besessenen Gegnern gab es einen Unterschied: Die einen zeigten die fratzenhaften Züge Everids, die anderen die Keyrils.

Und so kämpften Keyril und Everid, wobei sie die menschlichen Körper als Waffen benutzten. Ohne Furcht traten sie gegeneinander an, und so etwas wie Gnade oder Barmherzigkeit kannten sie nicht. Zunächst glänzende Klingen färbten sich rasch rot. Blut strömte. Arme wurden abgeschlagen, Bäuche aufgeschlitzt. Kopflose Männer setzten den Kampf noch einige Sekunden lang fort, bis sie schließlich zu Boden sanken. Nur dann, wenn ein Leib völlig zerstückelt wurde, starb der dämonische Teil, der ihn bis dahin kontrolliert hatte. Nach kurzer Zeit waren alle Everid-Krieger tot, und fünfzehn Soldaten Keyrils blieben übrig. Sie wankten und taumelten in Richtung der Feste, in der die Ritter Faides noch immer das Tor kontrollierten. Die Rüstungen tragenden Männer Ballants stürzten ihnen entgegen und kämpften mit dem Mut der Verzweiflung, denn sie wußten, daß jetzt der entscheidende Augenblick gekommen war. Die Augen der Besessenen gleißten in blutigen Gesichtern, und immer wieder hoben sich ihre unermüdlichen Arme zu tödlichen Hieben. Innerhalb kurzer Zeit schlugen sie eine Bresche ins Eisen. Die Faide-Ritter jubelten und nahmen die Verfolgung des Feindes auf. Die Schlacht tobte nun auch im Innenhof der Bastion, und jetzt konnte kein Zweifel mehr an ihrem Ausgang bestehen. Ballantfeste wurde erobert.

Der in seinem Zelt sitzende Isak Comandore holte tief Luft, schauderte und riß sich die Dämonenmaske vom Gesicht. In der Feste blieben die zwölf überlebenden Besessenen wie angewurzelt stehen, krümmten sich zusammen, sanken zu Boden, spuckten Blut und starben.

Lord Ballant bewies noch ein letztes Mal seine Tapferkeit, trat hoch erhobenen Hauptes durch das Tor und zog die Waffeseiner Ahnen. Über das blutige Schlachtfeld hinweg zielte er damit auf Lord Faide und betätigte den Auslöser. Ein kurzlebiger Lichtblitz zuckte aus dem Lauf, und Lord Faide spürte, wie seine Haut zu prickeln begann und sich ihm die Nackenhaare aufrichteten. Dann knisterte die Ahnenwaffe, wurde kirschrot und schmolz. Lord Ballant ließ sie fallen, zog das Schwert und machte Anstalten, Lord Faide zum Duell herauszufordern.

Doch Lord Faide fühlte sich nicht dazu geneigt, selbst zu kämpfen, und er gab seinen Soldaten ein Zeichen. Ein halbes Dutzend Pfeile beendete das Leben Lord Ballants und ersparte ihm die Demütigung einer zeremoniellen Hinrichtung.

Weiteren Widerstand gab es nicht. Die Verteidiger von Ballantfeste legten ihre Waffen beiseite, und mit finsteren Mienen verließen sie ihre Bastion, um vor Lord Faide zu knien. In der Feste blieben die Frauen zurück und klagten und weinten.

V

Lord Faide wollte nicht lange in Ballantfeste verweilen, denn er fand keinen Gefallen daran, seine Siege zu feiern. Es mußten viele Entscheidungen getroffen werden. Sechs der nächsten Verwandten Lord Ballants wurden erstochen, und anschließend sprach man ihren Söhnen und Töchtern alle Rechte ab. Andere Angehörige des Clans stellte man vor die Wahl: Entweder sie schworen lebenslange Lehenstreue und erklärten sich bereit, einen bescheidenen jährlichen Tribut zu entrichten, oder sie starben ebenfalls. Zwei von ihnen starrten den Eroberer stolz und zornig an und entschieden sich für den Tod. Sie wurden geköpft.

Lord Faide hatte nun sein Ziel erreicht. Seit über tausend Jahren rangen die Lords der einzelnen Bastionen um die Macht. Dann und wann war es dem einen oder anderen gelungen, sich einen Vorteil zu verschaffen. Doch noch niemals hatte sich die Autorität eines Festenherrn über den ganzen Kontinent erstreckt – und das bedeutete die Kontrolle des ganzen Planeten, denn die restlichen Landmassen bestanden entweder aus heißen Stein wüsten oder ewigem Eis. Lange Zeit war es Ballantfeste gelungen, die ehrgeizigen Pläne Lord Faides zu vereiteln – doch nun gehörte sie zum Machtbereich des Faide-Clans und stellte kein Hindernis mehr dar. Natürlich mußten noch die Herren von Wolkenschloß und Gisbornefeste zur Rechenschaft gezogen werden, denn schließlich hatten sie sich mit Lord Ballant verbündet, vermutlich in der Überzeugung, auf diese Weise die Macht Lord Faides brechen zu können. Aber dabei handelte es sich um eine zweitrangige Aufgabe, die man Hein Huss überlassen konnte.

Zum erstenmal in seinem Leben verspürte Lord Faide plötzlich eine sonderbare Unsicherheit. Was nun? Es gab keine echten Gegner mehr. Sicher, es kam darauf an, das Erste Volk zu verdrängen, aber das sollte sich eigentlich ohne große Probleme bewerkstelligen lassen. Zwar waren die Einheimischen recht zahlreich, doch andererseits handelte es sich bei ihnen nur um Wilde. Lord Faide mußte daran denken, daß es bei seinen Untertanen und Verbündeten früher oder später zu Unzufriedenheit und Streitereien kommen würde. Muße, die sich recht schnell in Langeweile verwandelte – und dann mochten Schlaumeier und Leute mit Tatendrang das Für und Wider von Intrigen erwägen. Es ließ sich gar nicht vermeiden, daß im Laufe der Zeit selbst seine treuesten Anhänger mit sehnsüchtigem Schwermut an die vergangenen Feldzüge zurückdachten, an die Freiheit der Schlacht, an Ruhm und Ehre, an das Klirren von Schwertern. Es kommt darauf an, dachte Lord Faide, eine Möglichkeit zu finden, die Kräfte so aktiver und tatendurstiger Männer zu binden. Wo und wie – darin bestand das Problem. Der Bau von Straßen? Die Kultivierung des Hügellandes, das Anlegen neuer Äcker? Jährliche Turniere? Lord Faide runzelte die Stirn, als ihm klar wurde, daß solche Ideen keine wirklichen Lösungen darstellten. Andererseits wurde seine Phantasie von einem grundlegenden Mangel an entsprechender Tradition beeinträchtigt. Die ersten Siedler, die sich auf Pangborn niederließen, waren Krieger gewesen und hatten nur einen geringen Erfahrungsschatz an praktischem Wissen mitgebracht. Die über die Generationen hinweg überlieferten Legenden berichteten von großen Raumschiffen, die mit magischer Geschwindigkeit die Sternenräume durchrasten, auch von den Wunderwaffen und den Kriegen in der Großen Leere – doch es gab keine Sagen, die von der menschlichen Geschichte oder den Errungenschaften der Zivilisation erzählten. Zwar hatte Lord Faide nun seinen Ehrgeiz befriedigt, doch andererseits gab es jetzt nichts Erstrebenswertes mehr für ihn, keine weiteren Ziele für seine Ambitionen, und deshalb fühlte er sich niedergeschlagener und verdrießlicher als jemals zuvor.

Gleichgültig begutachtete er die Beute von Ballantfeste. Die Dinge interessierten ihn nicht sonderlich. Der Ahnenwagen Ballants wurde nicht mehr benutzt und befand sich in einem gläsernen Schaukasten. Lord Faide betrachtete auch die Waffe Vulkan, aber sie konnte nicht demontiert werden. Außerdem war sie ohnehin nutzlos, ihre Magie für immer verloren. Lord Faide wußte inzwischen, daß der Herr von Ballantfeste befohlen hatte, sie gegen den Faide-Wagen zum Einsatz zu bringen, doch kein Feuer leckte aus dem Lauf des großen Geschützes. Bei der Untersuchung stellte Lord Faide mit einer gewissen verächtlichen Belustigung fest, daß die Waffe vernachlässigt worden war. Rostfladen zeigten sich auf dem einstmals glänzenden Metall; sorglose Reinigungsbemühungen hatten die Außenrohre verbogen und zweifellos die Kraft des Zaubers verringert. In Faidefeste wäre eine derartige Behandlung undenkbar gewesen! Jambart der Waffenwart sah seine Lebensaufgabe darin, Höllenmaul zu pflegen, und er widmete sich ihr mit ganzer Hingabe. Anderenorts gab es weitere uralte Apparaturen, die zwar interessant sein mochten, doch keinen Nutzen mehr hatten – und das traf auch auf die Dinge in den Regalen und Kisten von Faidefest zu. (Unsere Vorfahren müssen sehr seltsam gewesen sein, dachte Lord Faide. Einerseits waren sie so klug, aber andererseits so primitiv und unpraktisch. Inzwischen hatte sich eine Menge verändert. Seit der dunklen Epoche vor eintausendsechshundert Jahren war es zu enormen Fortschritten gekommen. Zum Beispiel nutzten die Ahnen komplizierte Dinge aus Metall und Glas, um sich miteinander zu verständigen. Lord Faide hingegen brauchte bloß auszusprechen, auf was es ihm ankam. Hein Huss konnte seinen Geist über hundert Meilen hinweg auf die Reise schicken, um zu sehen und zu hören und die Worte Lord Faides zu übermitteln.) Dutzende von solchen Objekten hatten die Vorfahren hinterlassen, doch die alte Magie schien sich im Laufe der Zeit zu verausgaben, und offenbar funktionierten jene Gegenstände nicht mehr richtig. Lord Ballants Ahnenwaffe, die schmolz, nachdem sie bei Lord Faide nur ein leichtes Prickeln bewirkte. Man stelle sich einmal eine Streitmacht vor, überlegte Lord Faide, die mit solchen Dingen ausgerüstet gegen eine Kompanie von besessenen Kriegern anzutreten versucht! Ein Gemetzel wäre die Folge, und niemand von ihnen käme mit dem Leben davon!

Inmitten der Beute aus Ballantfeste entdeckte Lord Faide einige alte Bücher und mehrere Mikrofilmrollen. Die Bücher waren wertlos: Auf jeder Seite reihten sich unverständliche und bedeutungslose Zeichen aneinander. Mit den Mikrofilmen ließ sich ebenfalls nichts anfangen. Erneut schüttelte Lord Faide den Kopf, als er an die Ahnen dachte. Klug und schlau, sicher, aber bei genauerem Hinsehen kaum weiter entwickelt als das Erste Volk: Keiner der Vorfahren schien telepathisch befähigt oder dazu in der Lage gewesen zu sein, das Bewußtsein auf die Reise zu schicken oder Dämonen zu beschwören. Und die Magie der Menschen vor sechzehnJahrhunderten: Die Legenden schienen viele Übertreibungen zu enthalten. Vulkan zum Beispiel. Ein Witz. Lord Faide dachte an sein Höllenmaul. Nein, nein – Höllenmaul wurde gut gepflegt und war nach wie vor einsatzfähig. Jambart reinigte und putzte die Waffe jeden Tag, und einmal im Monat wusch er die ganze Kuppel mit besonders erlesenem Wein aus. Wenn menschliche Sorgfalt technische Magie erhalten konnte, so gewährleistete Höllenmaul die Sicherheit von Faidefeste.

Allerdings war es jetzt gar nicht mehr notwendig, jederzeit zur Verteidigung bereit zu sein. Faide nahm eine Vormachtstellung ein. Der Lord dachte an die Zukunft und traf eine Entscheidung. Von jetzt an, so meinte er, sollte es auf Pangborn keine Festenlords mehr geben. Er nahm sich vor, diesen Titel abzuschaffen. Mit der Verwaltung der Bastionen wollte er besondere Vertraute beauftragen, wobei er eine jährliche Ablösung vorsah. Die früheren Lords konnten in komfortablen Landhäusern unterkommen, die natürlich keine Verteidigungseinrichtungen aufweisen durften, und der Unterhalt einer privaten Streitmacht war ihnen in Zukunft verboten. Natürlich hatten sie die Möglichkeit, weiterhin Unglücksbringer in ihre Dienste zu nehmen, doch die Betreffenden, so überlegte Lord Faide, mußten in erster Linie ihm gegenüber verantwortlich sein. Das mochte dadurch bewerkstelligt werden, indem er ihnen eine Art Lizenz auf Widerruf erteilte. Er machte sich eine gedankliche Notiz, um später mit Hein Huss darüber zu sprechen. In jedem Fall handelte es sich um etwas, dem erst für die nächste Zeit Bedeutung zukam. Derzeit verspürte Lord Faide nur den Wunsch, alles in Ordnung zu bringen und in seine Bastion zurückzukehren.

Es gab nur noch wenige Dinge zu erledigen. Die überlebenden Ballant-Kämpfer wurden nach Hause geschickt, nachdem Huss Puppen von ihnen hergestellt und mit entsprechenden Haaren und anderen Objekten versehen hatte. Wenn sie sich irgendwann weigern sollten, den Tribut zu entrichten, so genügte eine Brandblase oder ein Magenkrampf, um sie wieder zur Ordnung zu rufen. Und was Ballantfeste anging: Am liebsten hätte Lord Faide sie niedergebrannt, doch leider widerstand das von den Ahnen verwendete Baumaterial selbst dem heißesten Feuer. Um zu verhindern, daß später irgend jemand Anspruch auf das Ballant-Erbe erheben konnte, gab Lord Faide den Befehl, alle Hinterlassenschaften und Relikte auf dem Platz zusammenzutragen, und anschließend forderte er seine Leute dazu auf, frei unter den Objekten zu wählen. Und sie traten vor, die ranghöchsten Männer zuerst, dann die anderen. Selbst die Unglücksbringer durften Dinge an sich nehmen, doch sie lehnten die uralten Gegenstände ab und meinten, es handele sich dabei nur um Tand, um die Produkte närrischen Aberglaubens. Die einfacheren Thaumaturgen und Kabalisten und Novizen kramten in den Sachen, und manchmal entdeckten sie dabei einige bis dahin übersehene Kostbarkeiten. Isak Comandore runzelte die Stirn, als Sam Salazar mit Büchern beladen an ihm vorbeistakte. »Was hast du denn damit vor?« fragte er schroff. »Warum gibst du dich mit solchem Plunder ab?«

Sam Salazar senkte den Kopf. »Ich weiß noch nicht, wozu sich diese Sachen verwenden lassen. Zweifellos gab es Weisheit bei den Ahnen, zumindest Wissen. Vielleicht ist es mir möglich, diese Symbole zu entziffern, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.«

Comandore seufzte, schüttelte den Kopf und wandte sich an den neben ihm stehenden Hein Huss. »Zuerst steht er stundenlang im Schlamm und versucht, sich in einen Baum zu verwandeln. Und jetzt glaubt er, zu einem weisen Unglücksbringer zu werden, indem er sich mit alten Zeichen befaßt.«

Huss zuckte mit den Schultern. »Unsere Vorfahren waren Menschen wie wir, und obgleich man ihnen eine gewisse Primitivität nicht absprechen kann, erfordert es sicher ein gewisses Geschick, solche Dinge herzustellen.«

»Ein ›gewisses Geschick‹ ist wohl kaum ein Ersatz für echte Unheilskunst«, erwiderte Isak Comandore. »Diesen Punkt kann man nicht oft genug wiederholen. Ich habe Salazar mindestens hundertmal darauf hingewiesen. Und doch… Sehen Sie nur, was er macht!«

Huss gab ein unverbindliches Brummen von sich. »Ich verstehe nicht, was er damit zu erreichen hofft.«

Sam Salazar versuchte seine Beweggründe zu erklären. Er suchte nach den geeigneten Worten, um eine Vorstellung zu erläutern, die er noch gar nicht entwickelt hatte. »Ich dachte: Wenn es mir gelingt, die Symbole zu entziffern, so wäre es doch möglich zu erfahren, was die Ahnen dachten, und dann könnte ich vielleicht einiger ihrer Tricks lernen.«

Comandore rollte mit den Augen. »Welcher Feind hat mich verhext, als ich mich damit einverstanden erklärte, dich als Novizen aufzunehmen? Ich kann in einer Stunde zwanzig verschiedene Wunder bewirken – mehr als einer der Ahnen in seinem ganzen Leben.«

»Trotzdem«, hielt ihm Sam Salazar entgegen, »stelle ich fest, daß Lord Faide im Wagen seiner Vorfahren unterwegs ist – und Lord Ballant hat versucht, uns alle im Vulkan zu verbrennen.«

»Und ich stelle fest«, entgegnete Comandore, der sich kaum mehr beherrschen konnte, »daß mein Dämon Keyril stärker war als Vulkan. Und in meinem Wagen bin ich wesentlich schneller als Lord Faide in seinem.«

Sam Salazar dachte kurz nach und hielt es für besser, die verbale Auseinandersetzung zu beenden. »Sie haben recht, Unglücksbringer Comandore, Sie haben völlig recht. Ich beuge mich Ihrer Weisheit.«

»Dann wirf die Bücher auf den Haufen zurück und mach dich nützlich. Morgen früh kehren wir zur Faidefeste zurück.«

»Wie Sie wünschen, Unglücksbringer Comandore.« Und Sam Salazar trennte sich von seinen Büchern.

VI

Die überlebenden Angehörigen des Ballant-Clans wurden vertrieben und Ballantfeste geplündert. Lord Faide und seine Leute speisten feierlich im Großen Saal, und Ballant-Diener trugen die Mahlzeit auf.

Die eroberte Feste zeichnete sich durch die gleiche architektonische Großzügigkeit aus wie die Bastion der Faides. Der Große Saal war dreißig Meter lang, fünfzehn breit und fünfzehn hoch. Das widerstandsfähige Baumaterial der Ahnen verbarg sich hinter der Vertäfelung aus einheimischem Hartholz, das man speziell bearbeitet und gewachst hatte und das nun in einem honigfarbenen Ton glänzte. Dicke schwarze Balken stützten die Decke. Von den hohen Holmen hingen Kandelaber herab – komplexe Schmuckarbeiten aus grünem, purpurnem und blauem Glas. Daran funkelten die Lichtsplitter, die sich noch immer nicht getrübt hatten. An der gegenüberliegenden Wand hingen die Porträts aller Lords von Ballantfeste – einhundertfünf ernste Männer, die unterschiedliche Kleidung trugen. Darunter zeigte sich die drei Meter hohe Darstellung eines Stammbaumes, der die Entwicklung des Ballant-Clans und die Verbindung zu anderen vornehmen Familien verdeutlichte. Jetzt aber hatte der Große Saal den überwiegenden Teil seiner einstigen Pracht eingebüßt, und die Ahnenmienen wirkten bedeutungslos und leer.

Lord Faide speiste ohne Begeisterung, und dann und wann warf er den Leuten kurze Blicke zu, die sich zu sehr vergnügten. Lord Ballant hatte sich so verhalten, wie es bei ihm, Faide, unter ähnlichen Umständen der Fall gewesen wäre. Angesichts dessen schien lärmender Triumph ein Beweis schlechten Geschmacks zu sein – und Lord Faide glaubte fast, als könne er das Verhalten der anderen Männer am Tisch als Respektlosigkeit ihm gegenüber interpretieren. Es dauerte nicht lange, bis seine Begleiter den Grund für den Ernst ihres Herrn begriffen, und daraufhin unterhielten sie sich mit gedämpfteren Stimmen.

Die Unglücksbringer saßen in einem kleineren Nebenzimmer. Anderson Grimes, vormals der Oberste Unglücksbringer in den Diensten Lord Ballants, hockte neben Hein Huss und versuchte, so gut wie möglich mit der Tatsache zurechtzukommen, daß er besiegt worden war. Immerhin hatte er es gleichzeitig mit vier Gegnern zu tun bekommen und dabei keine schlechte Figur abgegeben; es gab also keinen Grund, eine Beeinträchtigung des Mana zu befürchten. Die fünf Unglücksbringer sprachen über die Schlacht, während die Kabbalisten und Thaumaturgen höflich zuhörten. Als besonders interessant erwies sich die Diskussion über den Einsatz der von den Dämonen besessenen Soldaten. Anderson Grimes erklärte bereitwillig, er stelle sich Everid als eine absolut brutale und grausame Entität vor, die in ihrer unbarmherzigen Kraft dem Grauen selbst gleichkäme. Die anderen Unglücksbringer pflichteten ihm sofort bei und meinten, es gelänge ihm durchaus, diese emotionalen Eindrücke zu projizieren. Hein Huss jedoch wies darauf hin, daß Isak Comandores Keyril ebenso wild und gnadenlos sei, gleichzeitig aber auch so etwas wie genau überlegte Boshaftigkeit offenbare, und dadurch, so führte er aus, werde der besessene Krieger zu einer wirkungsvolleren Waffe.

Anderson Grimes gestand ein, das könne durchaus zutreffen, und er fügte hinzu, er habe schon erwogen, seinen Dämonen auch mit dem eben genannten Charakteristikum auszustatten.

»Meiner Ansicht nach«, sagte Hein Huss, »sollte ein besonders tüchtiger Dämon schnell genug sein, um den Angriffen vergleichsweise schlichter Entitäten wie Keyril und Everid zu entgehen. Ich möchte meinen eigenen Dant in dieser Hinsicht als Beispiel nennen. Ein von Dant besessener Krieger hat keine Schwierigkeiten damit, einem Keyril oder Everid den Garaus zu machen – einfach nur, weil er agiler ist. Bei derartigen Begegnungen büßen die Keyrils und Everids ihre Fähigkeiten ein, Entsetzen zu wecken, und dadurch verlieren sie ihren größten Vorteil.«

Isak Comandore bedachte Huss mit einem durchdringenden Blick. »Das ist nur eine Vermutung, und doch sprechen Sie sie so aus, als handele es sich um ein Faktum. Ich habe Keyril mit einem derartigen Geschick ausgestattet, daß er auch mit solchen Gegnern fertig wird. Ich bin fest davon überzeugt, Keyril ist der gräßlichste aller Dämonen.«

»Das mag durchaus sein«, erwiderte Hein Huss nachdenklich. Er gab einem der Diener ein Zeichen, und daraufhin löschte der Mann einige Kerzen. Es wurde etwas dunkler im Zimmer. »Gebt acht«, sagte Hein Huss. »Dort ist Dant. Er kommt, um uns Gesellschaft zu leisten.« Und vor der einen Wand des Raumes hockte der Dämon, gestreift wie ein Tiger – ein Geschöpf, das aus elastischem Metall bestand. Vier gräßlich aussehende Arme hatte es, und einen schwarzen und kantigen Schädel, der aus kaum mehr als einem riesigen Rachen zu bestehen schien.

»Seht dort!« erklang die heisere Stimme Isak Comandores. »Das ist Keyril.« Keyril ähnelte mehr einem Menschen und war mit einem langen Entermesser bewaffnet. Dant entdeckte den anderen Dämonen. Er riß das Maul noch weiter auf, sprang los und griff an.

Die Schlacht kam einer Manifestation des Entsetzens gleich. Die beiden Teufelswesen rollten umher, krümmten sich zusammen, bissen, geiferten, brüllten lautlos und zerfetzten sich gegenseitig. Plötzlich machte Dant einen Satz zurück, sauste mit atemberaubender Geschwindigkeit um Keyril herum und wurde schneller und immer schneller, bis er nur noch ein Schemen war, ein zerfließendes Konglomerat aus Farben, das zu schrillen begann. Keyril stieß mehrmals mit seinem Entermesser zu, schien dann aber schwächer zu werden. Seine Gestalt begann zu verblassen. Das Licht, das zuvor Dant gewesen war, verwandelte sich in einen grellen Blitz und platzte in einem mentalen Schrei auseinander. Keyril verschwand, und Isak Comandore stöhnte.

Hein Huss holte tief Luft, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah sich mit einem selbstzufriedenen Grinsen um. Die anderen Männer saßen wie erstarrt und rührten sich nicht. Nur der Novize Sam Salazar drehte den Kopf und begegnete dem Blick Hein Huss’ mit einem anerkennenden und fröhlichen Lächeln.

»Ha!« machte Huss und schnappte keuchend nach Luft. »Du glaubst also, du seiest stärker als die Illusion. Du sitzt da und machst dich über eine der besten Leistungen Hein Huss’ lustig.«

»Nein, nein!« erwiderte Sam Salazar rasch. »Ich verspotte Sie keineswegs! Ich möchte lernen, und deshalb beobachtete ich Sie und nicht den Dämonen. Was können sie mich schon lehren? Nichts!«

»Hm«, erwiderte Huss besänftigt. »Und was hast du erfahren?«

»Leider nichts«, antwortete der Novize. »Aber wenigstens habe ich nicht nur einfach geglotzt wie ein Fisch.«

Daraufhin erklang die Stimme Comandores, und sie vibrierte vor Zorn. »Du vergleichst mich mit einem Fisch?«

»Sie sind selbstverständlich ausgenommen, Unglücksbringer Comandore«, erklärte Sam Salazar.

»Bitte geh in mein Quartier und hol die Puppe aus dem Schrank, die dir ähnelt! Der Diener soll eine Schüssel mit Wasser herbeischaffen, und dann machen wir uns einen Spaß. Du scheinst dich ja sehr gut mit Fischen auszukennen: Vielleicht kannst du unter Wasser atmen. Wenn nicht… nun, dann erstickst du eben.«

»Das würde mir gar nicht gefallen, Unglücksbringer Comandore«, sagte Sam Salazar. »Und da wir gerade dabei sind: Ich möchte Sie nicht länger belästigen. Mit Ihrer Erlaubnis: Ich kündige.«

Comandore gab einem der Kabbalisten ein Zeichen. »Holen Sie mir die Salazar-Puppe. Da er nun nicht mehr in meinen Diensten steht, habe ich keinen Zweifel, daß er gleich tatsächlich ertrinken wird.«

»Lassen Sie es gut sein, Comandore!« sagte Hein Huss rauh. »Quälen Sie den Jungen nicht! Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen, ist nur ein wenig verwirrt. Dies sollte eine Zusammenkunft des Frohsinns und der Gemütlichkeit sein, nicht des Streits.«

»Gewiß, Hein Huss«, erwiderte Comandore, »Sie haben recht. Es gibt noch genug Zeit, um den Bengel zur Ordnung zu rufen.«

»Unglücksbringer Huss«, sagte Sam Salazar, »ich habe Unglücksbringer Comandore gegenüber nun keine Verpflichtungen mehr, und ich würde mich sehr freuen, wenn ich in Ihre Dienste treten könnte.«

Hein Huss gab ein abfälliges Schnauben von sich. »Ich wüßte nicht, was ich mit dir anfangen sollte.«

»Die Zukunft hält viele Möglichkeiten bereit, Hein Huss«, meinte der Novize. »Das sind Ihre eigenen Worte.«

Hein Huss richtete den Blick seiner kristallklaren Augen auf Sam Salazar und musterte ihn eine Zeitlang. »Ja, die Zukunft hält viele Möglichkeiten bereit. Und ich glaube, an diesem Abend hat die Unheilskunst ihren Höhepunkt erreicht… Vermutlich geschieht es niemals wieder, daß sich soviel Macht und Geschick an einem Tisch versammelt. Irgendwann werden wir alle sterben, und dann gibt es niemanden, der unsere Nachfolge antreten könnte… Ja, Sam Salazar. Ich nehme dich als Novizen zu mir. Haben Sie gehört, Isak Comandore? Dieser junge Mann untersteht nun meiner Verantwortung.«

»Dafür verlange ich eine Gegenleistung«, knurrte Comandore.

»Sie sind doch so versessen auf die Puppe von Tharon Faide, die einzige, die es gibt. Ich überlasse sie Ihnen.«

»Oh-ho!« entfuhr es Isak Comandore, und er sprang auf. »Hein Huss, ich danke Ihnen! Sie sind wirklich großzügig! Ich nehme Ihr Angebot an. Der Handel ist perfekt!«

Hein Huss winkte Sam Salazar zu. »Bring deine Sachen in meinen Wagen. Und laß dich heute abend nicht mehr blicken.« Die Männer blieben weiterhin am Tisch sitzen und unterhielten sich, doch schon nach kurzer Zeit kam eine melancholische Stimme auf. Bald darauf traf ein Kurier ein

und berichtete, Lord Faide gebe allen den Rat, sich zur Nachtruhe zurückzuziehen, denn bei Morgengrauen mache sich die Streitmacht auf den Rückweg.

VII

Die siegreichen Faide-Truppen bezogen auf dem Heideland vor Ballantfeste Aufstellung. Als Zeichen seines Triumphes gab Lord Faide den Befehl, das große Tor der Bastion aus den Angeln zu reißen, so daß ihm fortan niemand den Zugang zur Feste verwehren könne. Aber selbst nach eintausendsechshundert Jahren hielten die Angeln der gemeinsamen Kraft aller Pferde stand, und das Tor blieb unbeschädigt.

Lord Faide fand sich mit diesem Fehlschlag ab und verabschiedete sich von seinem Vetter Renfroy, den er als Verwalter der Festung eingesetzt hatte. Anschließend stieg er in seinen Wagen, nahm hinter den Kontrollen Platz und betätigte einen Schalter. Das Gefährt reagierte mit einem stöhnend klingenden Summen und setzte sich in Bewegung. Die Ritter und Infanteristen folgten, dann die mit Beute beladenen Karren und schließlich die Wagen der Unglücksbringer.

Drei Stunden lang zog die Kolonne durch das moosige Hügelland. Ballantfeste blieb hinter ihr zurück, und voraus wurden der Nördliche und Südliche Dichtwald sichtbar, als eine dunkle Linie am westlichen Horizont. Dort wo einst der freie Bereich zwischen den beiden Wäldern existiert hatte, erstreckte sich nun die neue Pflanzung: Die Bäume waren noch nicht ganz so hoch, und sie wuchsen auch nicht so dicht beisammen.

Zwei Meilen davor hielt Lord Faide die Kolonne an und gab seinen Rittern ein Zeichen. Hein Huss stieg schnaufend aus seinem Wagen und trat an das Fahrzeug des Lords heran.

»Wenn wir auf Widerstand stoßen«, wandte sich Faide an seine Ritter, »so laßt euch nicht in den Wald locken. Bleibt bei der Kolonne und haltet die ganze Zeit über nach Fallen Ausschau.«

»Soll ich mich erneut als Unterhändler an das Erste Volk wenden?« fragte Hein Huss.

»Nein«, widersprach Lord Faide. »Es ist doch lächerlich, daß ich Wilde um Erlaubnis bitten soll, durch mein eigenes Land zu reisen. Wir kehren auf dem gleichen Weg zurück, den wir gekommen sind. Wenn uns das Erste Volk Schwierigkeiten macht, so ist das eben sein Pech.«

»Das wäre recht unbesonnen«, erwiderte Huss offen.

Lord Faide hob die schwarzen Augenbrauen und sah auf ihn herab. »Was können die Wilden schon gegen uns ausrichten, wenn wir ihren Fallen aus dem Weg gehen? Durch geblasenen Schaum kommt wohl kaum jemand zu Tode…«

»Es steht mir nicht zu, Sie zu warnen oder Ihnen Ratschläge zu erteilen«, sagte Hein Huss. »Allerdings möchte ich darauf hinweisen, daß das Erste Volk eine Zuversicht zeigt, die in offensichtlichem Widerspruch zu der Schwäche steht, die wir ihm zusprechen. Außerdem hat es Rohre, bei denen es sich gewiß um Grasholz-Schößlinge handelt, und das wiederum deutet darauf hin, daß es mit pfeilähnlichen Geschossen umzugehen versteht.«

Lord Faide nickte. »Zweifellos. Andererseits tragen unsere Ritter Rüstungen, und die Soldaten sind mit Schilden ausgestattet. Ich halte es nicht für angebracht, daß ich, Lord Faide von Faidenfeste, bei der Bestimmung meines Weges Rücksicht auf die Launen und Stimmungen des Ersten Volkes nehme. Und das muß endlich einmal klargemacht werden, selbst wenn eine derartige Lektion einigen Wilden das Leben kostet.«

»Da ich kein Kämpfer bin«, meinte Hein Huss, »bleibe ich im hinteren Abschnitt der Kolonne und durchquere erst dann den Wald, wenn der Weg sicher ist.«

»Wie Sie wünschen.« Lord Faide klappte das Visier seines Helms herunter. »Los geht’s!«

Die Streitmacht setzte sich wieder in Bewegung und näherte sich dem Wald. Sie folgte dabei der Route, die sie am Vortag genommen hatte: Die Spuren waren deutlich im Moos zu sehen. Lord Faide übernahm die Spitze, und begleitet wurde er von seinem Bruder Gethwin Faide und seinem Vetter Mauve Dermont-Faide.

Eine halbe Meile legten sie zurück, dann eine weitere. Der Wald war nur noch eine Meile entfernt. Weit oben erreichte die Sonne ihren höchsten Stand und strahlte hell und warm herab. Eine leichte Brise wehte den öligen Geruch von Dornbüschen und Tarsträuchern heran. Die Kolonne setzte den Weg fort, jetzt etwas langsamer, und die einzigen Geräusche waren das Klirren von Stahl, das dumpfe Pochen der Hufe auf dem Moos und das Ächzen und Knarren der Wagenräder.

Lord Faide richtete sich in seinem Fahrzeug auf und hielt nach dem Feind Ausschau. Eine halbe Meile von der Pflanzung entfernt machte er die Gestalten des Ersten Volkes aus. Die Autochthonen warteten in den Schatten am Rande des Waldes. Der Lord ignorierte sie und geleitete seine Streitmacht weiter, und er orientierte sich anhand der tiefen Abdrücke, die sie tags zuvor im Moos zurückgelassen hatten.

Aus der halben wurde eine Viertelmeile. Lord Faide drehte sich um und wollte seinen Leuten gerade die Anweisung geben, hintereinander Aufstellung zu beziehen, als sich in dem Moos plötzlich ein Loch bildete, das seinen Bruder Gethwin verschluckte. Ein Knacken und Knirschen wurde laut, gefolgt von einem dumpfen Krachen – und dem schrillen Wiehern eines aufgespießten Pferdes. Dann vernahm der Lord die lauten Schreie seines Bruders: Offenbar trat das Pferd wild aus und schmetterte ihn dadurch an die zugespitzten Pfähle in der Grube. Mauve Dermont-Faide, der neben Gethwin geritten war, konnte sein Roß nicht mehr unter Kontrolle halten. Es scheute, sprang von der Öffnung im Moos fort und löste dadurch eine weitere Falle aus. Ein mit fußlangen Dornen versehener Baumstamm raste plötzlich aus dem Moos empor. Rasch wie der Schwanz eines Skorpions zuckte das massige Objekt herum, und die Dornen durchschlugen die Rüstung Mauve Dermont-Faides. Sie drangen ihm in den Brustkasten, schleuderten ihn aus dem Sattel und rissen ihn mit sich, während er noch gellte und sich vor Schmerz hin und her wand. Die Spitze der Sichel prallte an die Flanke des Wagens Faides und zersplitterte dort. Das Fahrzeug schwang herum und gab dabei ein metallenes Stöhnen von sich. Lord Faide preßte sich an die Windschutzscheibe, um nicht aus dem Sitz zu fallen.

Die Kolonne hielt an. Einige Männer eilten an die Grube heran, konnten Gethwin jedoch nicht mehr helfen. Der Bruder Lord Faides lag in einer Tiefe von sechs Metern, vom Gewicht seines Pferdes erdrückt. Einige andere beherzte Leute zogen Mauve Dermont-Faide von der immer noch hin und her schwingenden Sichel, doch der Vetter des Lords war ebenfalls tot.

Lord Faide schauderte angesichts einer Mischung aus Haß und Zorn. Er blickte in Richtung des Waldes. Das Erste Volk stand noch immer im Schatten und rührte sich nicht. Er winkte Bernard, den Sergeanten der Infanteristen, zu sich heran. »Zwei mit Lanzen ausgerüstete Männer sollen den Boden weiter vorn untersuchen. Alle anderen halten die Bögen bereit.

Auf mein Zeichen hin werden die verdammten Wilden mit Pfeilen gespickt.«

Zwei Krieger gingen an dem Wagen des Lords vorbei und bohrten ihre Lanzen immer wieder ins Moos. Lord Faide lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Weiter!«

Langsam und vorsichtig zog die Kolonne durch den Wald, und alle Leute waren angespannt und zum Kampf bereit. Die Lanzen der beiden Männer, die die Vorhut bildeten, durchstießen kurz darauf das Moos und lösten eine Nesselfalle aus – eine Grube mit Nesseln, an deren Blättern reife und mit Säure gefüllte Knollen klebten. Mit aller Sorgfalt suchten die beiden Soldaten einen sicheren Weg an der Falle vorbei, und die Streitmacht folgte ihnen, wobei alle Krieger darauf achteten, in die Fußstapfen des Vordermannes zu treten.

Neben dem Wagen Lord Faides ritten nun seine Neffen Scolford und Edwin. »Fällt euch etwas auf?« fragte der Lord mit heiser und gepreßt klingender Stimme. »Diese Fallen wurden erst vorbereitet, nachdem wir gestern den Wald durchquerten. Es steckt also Absicht dahinter.«

»Aber warum führten uns die Wilden überhaupt erst durch ihre Domäne?«

Lord Faide lächelte bitter. »Sie wollten uns die Möglichkeit geben, uns bei Ballantfeste gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Doch wir haben sie enttäuscht.«

»Seht nur, sie führen dicke Stangen bei sich!« meinte Scolford.

»Vermutlich handelt es sich dabei um Blasrohre«, überlegte Edwin laut.

Scolford schüttelte den Kopf. »Mit ihren Schaumschlitzen können sie nicht blasen.«

»Ich schätze, das werden wir bald erfahren«, entgegnete Lord Faide. Erneut richtete er sich auf, sah nach hinten und rief: »Haltet die Pfeile bereit!«

Die Soldaten hoben ihre Bögen, und die Streitmacht rückte weiter vor. Die Entfernung zur neuen Pflanzung betrug nun nur noch hundert Meter, und die im Schatten des Waldrandes wartenden Repräsentanten des Ersten Volkes bewegten sich unruhig. Einige von ihnen hoben ihre Rohre und schienen damit zu zielen. Ihre großen Hände drehten sich ruckartig.

Ein Rohr deutete auf Lord Faide. Er beobachtete, wie ein kleines schwarzes Objekt daraus hervorschoß und rasch an Geschwindigkeit gewann. Er hörte ein leises Summen, das sich innerhalb kurzer Zeit in ein rhythmisches und scharf klingendes Sirren verwandelte, und aus einem Reflex heraus duckte er sich hinter die Windschutzscheibe. Seltsamerweise änderte das Geschoß seine Flugbahn, und mit der Wucht eines geschleuderten Steins prallte es auf das transparente Hindernis. Es rutschte daran herab und blieb auf der Seite liegen – ein dickes schwarzes Insekt, das aussah wie eine Wespe. Ockerfarbene Flüssigkeit sickerte aus dem abgeknickten Rüssel, und die hornigen Flügel zuckten noch. Der starre Blick hantelförmiger Augen richtete sich auf Lord Faide. Er ballte die Faust, die von einem mit Metallschuppen verstärkten Handschuh geschützt wurde, und zerschmetterte das Wesen.

Hinter ihm sausten die Wespen den Rittern und Soldaten entgegen. Corex Faide-Battaro reagierte nicht rechtzeitig genug, und eins der lebenden Geschosse drang ihm durch das Visier in ein Auge. Die Rüstungen der anderen Männer erwiesen sich als zu dick für die Projektile. Die Infanteristen aber waren nicht auf diese Weise geschützt: Die Wespen bohrten sich halb in ihre Leiber. Die Männer gaben schmerzerfüllte Schreie von sich, schlugen um sich und trugen tiefe Wunden davon. Corax Faide-Battaro fiel von seinem Pferd, stemmte sich wieder in die Höhe und taumelte blind übers Moos. Nach einigen Metern stürzte er in eine Falle. Die von den Wespen geplagten Krieger wanden sich hin und her, sanken ins Moos, traten um sich, sprangen wieder hoch und führten sich auf wie Leute, die völlig übergeschnappt waren.

Und das Erste Volk im Wald hob erneut die Rohre. »Rasch, spickt die Wilden!« rief Lord Faide aufgebracht. »Bogenschützen, laßt eure Pfeile davonsausen!«

Sehnen schnappten, und die Geschosse rasten den bleichen Gestalten entgegen. Einige von ihnen wankten und stakten davon. Die meisten jedoch zogen die Pfeile einfach aus dem Fleisch oder schenkten ihnen überhaupt keine Beachtung. Sie holten kapselartige Gegenstände aus kleinen Taschen und schoben sie in das Ende der Rohre.

»Achtet auf die Wespen!« rief Lord Faide. »Hebt die Schilde und zerschmettert sie damit!«

Erneut erklangen das Sirren und Summen horniger Schwingen. Einige der Soldaten brachten Mut genug auf, die Anweisungen des Lords zu befolgen. Andere waren zu langsam und fielen den lebenden Geschossen zum Opfer. Und weitere schwarze Insekten schwirrten heran. Die Männer duckten sich, lagen am Boden, krümmten sich zusammen. Chaos herrschte.

»Infanteristen – Rückzug!« befahl Lord Faide wütend. »Infanteristen – zurück, zurück! Ritter zu mir!«

Die Soldaten wandten sich zur Flucht, liefen in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und suchten Schutz hinter den Beutekarren. Dreißig von ihnen lagen sterbend – oder bereits tot – auf dem Moos.

Lord Faides Stimme dröhnte wie ein Horn, als er seinen Rittern zurief: »Steigt ab und folgt mir langsam! Die Helme zuklappen und darauf achten, daß die Wespen nicht durch die Visiere eindringen können! Immer nur ein Schritt, hinter dem Wagen! Edwin, du nimmst neben mir Platz und untersuchst den Boden mit deiner Lanze! Wenn wir im Wald sind, brauchen wir keine Fallen mehr zu befürchten. Dann wird angegriffen.«

Die Ritter bezogen hintereinander Aufstellung und folgten dem Wagen. Lord Faide fuhr ganz langsam, und sein Verwandter Edwin stieß die Lanze immer wieder ins Moos. Das Erste Volk brachte noch einige weitere Wespen zum Einsatz, doch sie prallten wirkungslos an den Rüstungen ab. Dann verstummte das Sirren und Summen, und Stille schloß sich an. Ruhig beobachteten die Autochthonen, wie sich ihnen die Ritter Schritt um Schritt näherten.

Mit seinem Speer entdeckte Edwin eine Falle, und daraufhin wich die Kolonne zur einen Seite aus. Eine zweite – und Lord Faide und seine Männer waren gezwungen, sich von der Pflanzung abzuwenden und in Richtung des Waldes vorzurücken. Schritt um Schritt, Meter um Meter. Und wieder eine Falle, die einen Umweg nötig machte. Nach einer Weile war die Gruppe nur noch dreißig Meter vom Wald entfernt. Eine Falle rechts, eine links: Der sichere Weg wurde von einem hohen Baum mit ausladendem Geäst markiert. Zwanzig Meter, fünfzehn, zehn – dann zog Lord Faide sein Schwert.

»Macht euch zum Angriff bereit – schlagt auf die Wilden ein, bis eure Arme des Tötens müde werden!«

Vom Wald her erklang ein eigentümliches Knacken. Die Äste und Zweige des großen Baumes zitterten. Die Ritter rissen die Augen auf und waren für einige Sekunden wie erstarrt. Der Baum neigte sich nach vorn, und verzweifelt versuchten die Kämpfer zu fliehen, wandten sich nach hinten, nach rechts und links. Fallen öffneten sich, und zugespitzte Pfähle durchbohrten einige Ritter. Der Baum stürzte. Dicke Äste brachen Rüstungen auf, so als handele es sich dabei nur um dünne und zerbrechliche Nußschalen. Lord Faide verlor den Halt und sank hinter den Kontrollen zu Boden; der Wagen wurde tief ins Moos gepreßt. Seine instinktive Reaktion bestand darin, den Motor auszuschalten. Dann stemmte er sich in die Höhe und kletterte durchs Geäst des Baumes. Das bleiche Gesicht eines Nichtmenschen starrte ihn an. Der Lord holte aus und schmetterte die Faust auf das gewölbte Facettenauge. Unmittelbar darauf brüllte er triumphierend und schob sich durch das Gewirr aus Zweigen. Einige der Ritter folgten seinem Beispiel, doch rund ein Drittel von ihnen war unter dem Baum zerquetscht oder von Ästen und Pfählen aufgespießt worden.

Das Erste Volk kam heran, bewaffnet mit riesigen Dornen, so lang wie Schwerter. Doch nun konnte Lord Faide aus unmittelbarer Nähe gegen den Feind vorgehen. Wie ein Racheengel sprang er ihnen entgegen und schwang sein Schwert mit beiden Händen, so als sei er von einem Dämonen besessen. Die überlebenden Ritter schlossen sich ihm an, und auf dem Boden blieben Dutzende von zerstückelten Autochthonen zurück. Die anderen wichen langsam fort, ohne irgendwelche Anzeichen von Furcht oder Panik. Widerstrebend gab Lord Faide seinen Rittern den Befehl, sich von ihnen abzuwenden. »Wir müssen denen helfen, die noch immer unter dem Baum festsitzen, uns um die kümmern, die bisher überlebt haben.«

Sie hackten Dutzende von Ästen und Zweigen ab und zogen verwundete Kämpfer aus dem Dickicht. In einigen Fällen hatte das weiche Moos die Wucht des Aufpralls gemildert. Sechs Ritter waren tot, vier weitere so schwer verletzt, daß es keine Hoffnung mehr für sie gab. Jenen tapferen Kriegern gab Lord Faide selbst den Gnadenstoß. Nach zehn weiteren Minuten gelang es ihnen, den Wagen Lord Faides aus dem Gewirr zu befreien – und die ganze Zeit über ruhten die ruhigen und gleichgültig wirkenden Blicke der im Wald stehenden Nichtmenschen auf ihnen. Die Ritter wollten zum zweitenmal angreifen, doch Lord Faide befahl den Rückzug. Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie die Kolonne.

Dort angelangt ordnete der Lord einen Appell an. Die ursprüngliche Streitmacht hatte sich um mehr als ein Drittel reduziert. Verbittert schüttelte Faide den Kopf. Neue Wut keimte in ihm empor, als er daran dachte, welch einfachen Sieg der Gegner über ihn errungen hatte. Er wirbelte um die eigene Achse, begab sich ans Ende der Kolonne und trat an die Wagen der Magier heran. Die Unglücksbringer saßen an einem kleinen Feuer und tranken Tee. »Wer von euch ist bereit, das bleiche Gewürm des Waldes zu verhexen? Ich will, daß sie alle sterben. Sie sollen mit Blindheit geschlagen werden, Krämpfe bekommen, die sie innerlich zerreißen. Sie sollen bei lebendigem Leibe verfaulen, auf daß Maden ihr stinkendes Fleisch fressen. Beschwört die schlimmsten Qualen, die euch in den Sinn kommen!«

Schweigen schloß sich an diese Worte an. Und die Unglücksbringer nippten an ihrem Tee.

»Nun?« fragte Lord Faide. »Fällt euch keine Antwort ein? Habe ich mich etwa nicht klar genug ausgedrückt?«

Hein Huss räusperte sich und spuckte ins Feuer. »Es ist uns keineswegs entgangen, was Sie sich von uns erhoffen. Leider aber können wir das Erste Volk nicht behexen.«

»Und warum nicht?«

»Gewisse technische Gründe sprechen dagegen.«

Lord Faide wußte, daß es keinen Sinn hatte, diesem Argument zu widersprechen. »Sollen wir uns etwa geschlagen geben und den Wald umgehen, um nach Hause zurückzukehren? Wenn ihr das Erste Volk nicht behexen könnt, dann beschwört eure Dämonen! Ich selbst marschiere in den Wald, und mit meinem eigenen Schwert hacke ich uns den Weg frei!«

»Es steht mir nicht zu, Ihre Taktik zu kritisieren«, brummte Hein Huss.

»Heraus damit, sprechen Sie! Ich höre.«

»Man trug einen Vorschlag an mich heran, den ich jetzt weitergeben möchte. Er betrifft weder mich noch die anderen Unglücksbringer, denn es geht dabei um physikalische Prinzipien, wie sie von den Ahnen genutzt wurden, und die sind uns suspekt, wie allgemein bekannt sein dürfte.«

»Ich warte auf den Vorschlag«, sagte Lord Faide.

»Und ich werde ihn sofort erläutern. Wie Sie sich gewiß erinnern, hat einer meiner Novizen an den Kontrollen Ihres Wagens herumgespielt.«

»Ja, und dafür werde ich ihm noch das Fell über die Ohren ziehen, so wie er es verdient.«

»Durch irgendeinen Zufall gelang es ihm dabei, den Wagen in die Höhe steigen zu lassen. Der Vorschlag ist folgender:Beladen Sie das Fahrzeug mit so viel Öl, wie es aufnehmen kann. Anschließend lassen wir es aufsteigen und über die Pflanzung hinwegschweben. Zum geeigneten Zeitpunkt soll der an den Kontrollen sitzende Mann das Öl über den Bäumen ausschütten und unmittelbar darauf eine brennende Fackel werfen. Auf diese Weise wird der Wald Feuer fangen, was das Erste Volk zumindest in Schwierigkeiten bringen müßte. Im besten Fall kommen viele Autochthone ums Leben.«

Lord Faide klatschte in die Hände. »Ausgezeichnet! Rasch, ans Werk!« Er rief einige Soldaten herbei und gab ihnen Befehle. Vier Fässer Kochöl, drei Eimer Pech und sechs Korbflaschen mit Spiritus wurden in den Wagen des Lords gebracht. Der Motor heulte kreischend auf, und das Fahrzeug sank fast ganz bis zum Moos herab.

Traurig schüttelte Lord Faide den Kopf. »Alles andere als eine anständige Behandlung des Relikts – doch immerhin geschieht es zu einem guten Zweck. Und jetzt – wo steckt jener Novize? Er soll mir zeigen, welche Tasten und Schalter er betätigte.«

»Wie wäre es«, fragte Hein Huss, »wenn Sam Salazar den Wagen steuert?«

Lord Faide musterte kurz das rundliche und sanfte Gesicht des Novizen. »Wir brauchen jemand, der nicht nur mit dem Relikt umgehen kann, sondern auch weiß, worauf es sonst ankommt. Kann man ihm vertrauen?«

»Ich denke schon«, erwiderte Hein Huss. »Schließlich war es Sam Salazar, der den Plan entwickelte.«

»Nun gut. Steig ein, Novize! Behandle meinen Wagen mit Respekt! Der Wind weht von uns fort. Setz jenen Teil des Waldes dort in Brand, einen möglichst langen Streifen. Die Fackel. Wo ist die Fackel?«

Man brachte sie schnell herbei und befestigte sie an der einen Flanke des Fahrzeugs.

»Noch eins«, ließ sich Sam Salazar vernehmen. »Ich würde mir gern die Rüstung eines hilfsbereiten Ritters ausleihen, um vor den Wespen geschützt zu sein. Sonst könnte es geschehen, daß…«

»Eine Rüstung!« rief Lord Faide. »Bringt eine Rüstung!«

Als Sam Salazar vollständig ausgestattet war, klappte er das Visier herunter und stieg in den Wagen. Er nahm hinter den Kontrollen Platz, konzentrierte sich auf die Instrumente und betrachtete die Tasten und Schalter. Eigentlich war er gar nicht so sicher, welche Hebel er zuvor betätigt hatte… Er dachte kurz nach, beugte sich vor und zog einfach an einigen. Der Motor heulte und kreischte, und das Fahrzeug erzitterte und stieg, höher und immer höher: sechs Meter, zehn, zwanzig, dreißig, siebzig. Der Wind ließ den Wagen in Richtung des Waldes abtreiben. Im Schatten warteten die bleichen Gestalten des Ersten Volkes. Einige von ihnen hoben die Rohre und öffneten die Klappen am Ende. Die vor der Pflanzung stehenden Krieger und Soldaten beobachteten, wie Wespen durch die Luft sausten und an der Rüstung Sam Salazars abprallten.

Der Wagen schwebte nun über den Bäumen, und der Novize begann damit, das Öl auszuschütten. Die Autochthonen tief unten wurden unruhig. Der Wind drängte das Fahrzeug zu sehr ab. Einmal mehr streckte Sam Salazar die Hände nach den Kontrollen aus, und es gelang ihm, das Gefährt des Lords zurückzusteuern. Ein Faß war bereits leer, kurz darauf ein zweites. Er warf sie einfach ab und goß auch die beiden anderen aus. Dann kamen die Eimer mit dem Pech an die Reihe. Der Novize tränkte einen Stofflappen mit Spiritus, entzündete ihn und ließ ihn fallen. Gleich darauf leerte er die Flaschen.

Der brennende Lappen berührte die Blätter. Es knisterte, und die Baumkrone fing sofort Feuer. Der Wagen flog nun in einer Höhe von fast zweihundert Metern. Salazar goß die restlichen Flaschen aus, stieß sie über Bord, lenkte das Fahrzeug in Richtung des Heidelandes zurück, tastete nervös über die Schalter und Knöpfe und schaffte es, das Gefährt auf dem Moos zu landen.